„Das ist nur schwer zu ertragen“

von Redaktion

Schleichende Triage statt simpler Horrorszenarien: Eine Chefärztin und die Realität in der Klinik

Als Krankenhaus-Koordinatorin managt Prof. Viktoria Bogner-Flatz (40) unter anderem die Verteilung der Corona-Patienten auf die Münchner Kliniken. Im Interview analysiert die Chefärztin der Zentralen Notaufnahme der Kreisklinik Ebersberg, was Triage im Alltag bedeutet.

Gibt es bereits Triage auf den Intensivstationen?

Die meisten Menschen stellen sich unter Triage folgendes Horrorszenario vor: Zwei Patienten, ein Beatmungsgerät – und die Ärzte entscheiden, wer überlebt oder stirbt. Solche Fälle mag es in Bergamo gegeben haben, aber aus Bayern ist mir eine derartige Entscheidung über Leben und Tod nicht bekannt. Wahr ist allerdings auch, dass wir durch die Ausnahmesituation wegen Corona bewährte Behandlungsstandards immer öfter über Bord werfen müssen.

Was bedeutet das für die Patienten?

Ein Beispiel: Weil kein Intensivbett mehr frei war, mussten wir einen schwerkranken Patienten nach seiner Operation für einige Stunden in einem Schockraum der Notaufnahme unterbringen. Während er dort beatmet und überwacht wurde, haben wir fieberhaft herumtelefoniert, um woanders ein Intensivbett für ihn zu organisieren. Später wurde er dann in eine Klinik im Landkreis verlegt. Dass so etwas einen schwerkranken Patienten zusätzlich stresst, lässt sich nicht wegdiskutieren.

Auch viele Tumorpatienten können nicht mehr so gut behandelt werden, wie es eigentlich nötig wäre. Ist das keine Triage?

Es ist leider Fakt, dass immer wieder Tumor-Operationen abgesagt werden müssen, weil kein Intensivbett mehr frei ist. Das ist nur schwer zu ertragen – insbesondere wenn Ungeimpfte ein Intensivbett blockieren. Für uns Ärzte ist die Situation ebenso problematisch wie herausfordernd: Wenn ein Corona-Patient zu sterben droht, versucht man ihn natürlich zu retten. In diesem Moment hat man den Tumorpatienten nicht direkt vor Augen, obwohl er durch die OP-Verzögerung genauso in Lebensgefahr geraten könnte wie der Covid-Patient.

Sollten Geimpfte im Falle einer Triage bevorzugt behandelt werden?

Das ist eine juristische und moralische Frage, die man nicht dem Arzt aufbürden sollte, der im Schockraum gerade den Beatmungsschlauch in der Hand hält.

Wie müssten die „klaren Leitplanken“ für eine Triage aussehen, die die Politik jetzt setzen will?

Das Problem ist: Wir haben zwar bereits sinnvolle Regeln für die Priorisierung in der Notaufnahme und bei Katastrophenereignissen wie Massenunfällen oder Flugzeugabstürzen. Aber die besondere Situation in der Pandemie passt weder zu den einen noch zu den anderen Regelungen. Im absoluten Krisenfall wäre es sinnvoller, die Behandlungsstandards für alle abzusenken, als vor der Tür der Intensivstation über Leben und Tod entscheiden zu müssen.

Wie würde sich eine solche Notlösung auswirken?

In der Pflege haben wir solche Maßnahmen bereits ergriffen. So hat eine Pflegekraft früher zwei Intensivpatienten betreut, heute sind es drei. Für die Kollegen ist diese zusätzliche Arbeitsbelastung extrem anstrengend. Es ist klar, dass es sich nur um eine Notlösung handeln kann.

Interview: Andreas Beez

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