Moskau – Ungeachtet internationaler Kritik hat Russlands oberstes Gericht die international bekannte Menschenrechtsorganisation Memorial aufgelöst. Die Entscheidung der Richterin Alla Nasarowa in Moskau gilt als der mit Abstand schwerste Schlag gegen die russische Menschenrechtsbewegung. Memorial hat sich seit mehr als 30 Jahren international einen Namen mit der Aufarbeitung der kommunistischen Gewaltherrschaft in der Sowjetunion gemacht. Das Urteil, das nach öffentlicher Kritik an Memorial von Kremlchef Wladimir Putin nicht überraschend kam, löste breites Entsetzen aus – auch in Deutschland.
Jan Ratschinski von der Memorial-Leitung kündigte an, gegen die Entscheidung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorzugehen. Der prominente Verteidiger Henri Resnik, der auch Mitglied des Menschenrechtsrats beim russischen Präsidenten ist, sprach von einem „gesetzeswidrigen“ Richterspruch. „Aber das ist eine politische Entscheidung“, sagte Resnik.
Die Ende der 1980er-Jahre gegründete Gesellschaft beklagte bereits zu Beginn des Verfahrens, Ziel sei die „Zerstörung einer Organisation, die sich mit der Geschichte politischer Repressionen und mit dem Schutz der Menschenrechte befasst“. Menschenrechtler beklagen seit Längerem zunehmende autoritäre Tendenzen und die Verfolgung Andersdenkender in Russland.
Vor dem Gericht in Moskau versammelten sich mehr als 100 Unterstützer, wie Bilder von Memorial bei Twitter zeigten. Es habe vereinzelt auch Festnahmen gegeben. Diplomaten aus 15 Ländern hätten den Prozess verfolgt, darunter aus Deutschland, teilte das Gericht mit. Die Richterin begründete ihre Entscheidung nicht – sie folgte dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft.
Vor Gericht sagte deren Vertreter Alexej Dschafjarow, dass Memorial mit seiner Arbeit die vor 30 Jahren aufgelöste Sowjetunion als „Terrorstaat“ darstelle und Lügen über das Land verbreite. Nazi-Verbrecher würden sogar rehabilitiert, behauptete er. Ähnlich hatte sich erst vor drei Wochen Putin geäußert. Er meinte, Memorial habe sich den Idealen des Humanismus verschrieben, aber in Wahrheit in die Liste von Opfern politischer Repressionen zu Sowjetzeiten auch Menschen aufgenommen, die an Morden beteiligt seien.
Die international geachtete Organisation setzt sich zum Ärger der russischen Führung auch für politische Gefangene in Russland ein – 349 gibt es auf der Liste. Zudem deckte Memorial Verbrechen gegen die Menschlichkeit des sowjetischen Geheimdienstes auf. Putin selbst ist ein früherer KGB-Offizier, der nach dem Zerfall der Sowjetunion auch den Inlandsgeheimdienst FSB leitete.
Memorial war mehrfach zu Geldstrafen verurteilt worden, weil sie sich selbst nicht als „ausländischer Agent“ bezeichnet. Ein umstrittenes Gesetz sieht vor, dass Empfänger von Zahlungen aus dem Ausland als „Agenten“ bezeichnet werden können. Betroffen sind viele Menschenrechtler, aber auch Journalisten. Das Regelwerk steht international als Instrument für willkürliche Entscheidungen gegen Andersdenkende in der Kritik.
Deutliche Kritik an der gerichtlichen Entscheidung kam auch aus Deutschland. Die Entscheidung „widerspricht internationalen Verpflichtungen zum Schutz grundlegender Bürgerrechte, die auch Russland eingegangen ist“, erklärte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes. FDP und Grüne im Deutschen Bundestag sprachen von einem „politisch motivierten Urteil“.