München – Nancy Poser ist erleichtert. Die Juristin hatte gemeinsam mit acht weiteren Menschen mit Behinderung die Verfassungsbeschwerde eingereicht, der das höchste deutsche Gericht gestern stattgab. Der Gesetzgeber muss nun „unverzüglich“ Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt erforderlichen Triage treffen. Doch Freude verspürt sie nicht, sagt Poser. „Das ist ein Thema, da kann es keine Freude geben – egal nach welchen Kriterien entschieden wird, es ist immer tragisch.“
Eine Triage betrifft Situationen, in denen weniger Betten oder Geräte zur Verfügung stehen als für die Patienten erforderlich. Ärzte müssen dann entscheiden, welche Patienten beispielsweise ein Beatmungsgerät erhalten. Eine gesetzliche Regelung für eine befürchtete Triage-Situation gibt es bislang nicht – allerdings Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi). Das Gericht geht jedoch davon aus, dass behinderten oder schwer vorerkrankten Menschen auf dieser Grundlage eine Benachteiligung drohe. In eingeholten Stellungnahmen hätten Ärzte, Facheinrichtungen und Sozialverbände dies bestätigt. Behandelnde Ärzte bräuchten in dieser „extremen Entscheidungssituation“ deshalb eine gesetzliche Handhabe, die sicherstelle, „dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird“.
Nun ist der Bundestag am Zug. SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese sprach gestern bereits von einem „klaren Auftrag“, dem das Parlament „mit der gebotenen Sorgfalt nachkommen“ sollte. Auch Grüne und FDP signalisierten Handlungsbereitschaft. Justizminister Marco Buschmann (FDP) kündigte „zügig“ einen Entwurf für eine Neuregelung an.
Patientenschützer und der Sozialverband VdK begrüßen die Entscheidung des Verfassungsgerichts. „Jetzt kann sich der Bundestag nicht mehr drücken“, sagt der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. Bislang habe das Parlament Entscheidungen zur Priorisierung im Gesundheitssystem immer an Fachverbände wegdelegiert – auch wenn die Abgeordneten nun sicher vor keiner einfachen Aufgabe stünden. VdK-Chefin Verena Bentele betont, das jede Benachteiligung wegen einer Behinderung verhindert werden müsse. „Die Politik muss nun unverzüglich handeln, das hat das Gericht sehr deutlich gemacht.“
Auch Michael Weber begrüßt es grundsätzlich, dass mehr Rechtssicherheit geschaffen werde. „Aber der Mangel, der die Triagesituation auslöst, ist ja damit nicht beseitigt“, sagt der Präsident des Verbandes der leitenden Krankenhausärzte unserer Zeitung. Und den wesentlichen Anteil an der Entscheidung müssten letztlich weiter die Mediziner vor Ort treffen. „Menschen werden daraufhin keine Intensivtherapie bekommen – ob das gerecht zu verteilen ist, sei mal dahingestellt.“ mit dpa/afp/kna