Almaty – Wenige Tage nach einem von Präsident Kassym-Schomart Tokajew erteilten Schießbefehl haben die autoritären Behörden in Kasachstan laut Staatsmedien von mindestens 164 Todesopfern bei den schweren Unruhen gesprochen. Alleine in der besonders schwer betroffenen Millionenstadt Almaty seien 103 Menschen ums Leben gekommen – darunter zwei Kinder, berichtete das kasachische Staatsfernsehen am Sonntag unter Berufung auf das Gesundheitsministerium.
Am Abend gab es jedoch Verwirrung um die Angaben. Staatsmedien löschten im Nachrichtenkanal Telegram entsprechende Berichte, die zuvor unter Berufung aufs Gesundheitsministerium veröffentlicht wurden. Gründe wurden nicht angegeben. Die Behörde teilte dem Portal „vlast.kz“ zufolge mit, diese Zahlen nicht veröffentlicht zu haben. Die russische Nachrichtenagentur Interfax zitierte das Ministerium mit den Worten: „Wir bestätigen diese Informationen nicht.“ Neue Angaben wurden aber zunächst nicht verbreitet.
Auch wie viele der Todesopfer Zivilisten waren, blieb weiter unklar. Ein Einwohner der Stadt Almaty berichtete der Deutschen Presse-Agentur am Telefon von schlimmen Verwüstungen. Die US-Regierung verurteilte den Schießbefehl und rief die Behörden in Kasachstan dazu auf, die Rechte friedlicher Demonstranten zu wahren.
In den vergangenen Tagen waren aus der Wirtschaftsmetropole im Südosten des Landes immer wieder Fotos von abgedeckten Leichen auf Gehwegen, brennenden Gebäuden und schwer bewaffneten Sicherheitskräften nach außen gedrungen. Weil das Internet wiederholt komplett abgestellt und die Mobilfunkverbindung ständig unterbrochen waren, ist es allerdings zwischenzeitlich kaum möglich gewesen, an verlässliche Informationen aus Almaty zu kommen. Kasachstan hat zudem seine Grenzen für Ausländer geschlossen.
„Heute ist die Situation in der Stadt relativ ruhig“, sagte ein in Almaty lebender Journalist der dpa am Sonntag. „Gestern Abend habe ich noch selbst Schüsse gehört.“ Viele Lebensmittelgeschäfte seien geplündert worden. „Bankfilialen, Bankautomaten – alles ist kaputt.“ Vor Bäckereien, die den Betrieb wieder aufgenommen hätten, bildeten sich lange Schlangen. Weiterhin funktioniere das Internet nicht. Der Flughafen der Stadt wurde von Protestierenden besetzt und soll schwer beschädigt worden sein.
Gerade mit Blick auf Almaty hatten Kasachstans Behörden immer wieder von aus dem Ausland gesteuerten „Terroristen“ gesprochen. Dafür gab es zunächst keine Belege. Immer klarer scheint aber, dass in der Stadt – anders als in vielen anderen Landesteilen mit friedlichen Demos – wohl auch bewaffnete Mobs unterwegs waren.
Am Freitag hatte Präsident Tokajew Polizei und Armee befohlen, „ohne Vorwarnung“ auf Demonstranten zu schießen. International löste das großes Entsetzen aus. Befürchtet worden war, dass es viele zivile Todesopfer geben könnte. Laut offiziellen Angaben sind landesweit bislang mehr als 2200 Menschen verletzt worden. Knapp 6000 Demonstranten wurden festgenommen. Auch diese Angaben konnten zunächst nicht unabhängig überprüft werden.
Tokajew ordnete für Montag eine landesweite Staatstrauer an, um der Opfer zu gedenken. Gleichzeitig baute der 68-Jährige die Staatsführung weiter um. So entließ er am Samstag den stellvertretenden Sekretär des einflussreichen Sicherheitsrates, Asamat Abdymomunow, der vor einigen Jahren von seinem Vorgänger Nursultan Nasarbajew ernannt worden war. Der 81 Jahre alte Nasarbajew – der politische Ziehvater Tokajews – galt auch nach seinem Rücktritt im Jahr 2019 als mächtigster Mann in Kasachstan. Einige Experten meinen, dass Tokajew die aktuelle Krise nutze, um sich mehr Einfluss zu sichern.