„Die Leute stehen Schlange für billiges Brot“

von Redaktion

INTERVIEW Breite Bevölkerungsschichten in der Türkei sind akut von Verarmung bedroht

Istanbul – Der Verfall der türkischen Währung Lira könnte Recep Tayyip Erdogans politisches Ende bedeuten. Der Präsident hält gegen die Empfehlung von Wirtschaftsexperten und trotz hoher Inflation an seinem Kurs des niedrigen Leitzinses fest. Die Opposition fordert Neuwahlen. Antonia Tilly ist Vertreterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Istanbul. Die Politikwissenschaftlerin sorgt sich um die wirtschaftliche Zukunft des Landes und beschreibt die alltäglichen Probleme.

Frau Tilly, wo und wie sieht man die Inflation auf Istanbuls Straßen?

Tatsächlich ist die Inflation sichtbar. An den Ausgabestellen von subventioniertem Brot bilden sich in den letzten Wochen immer längere Schlangen. Viele Menschen nutzen dieses Angebot, obwohl sie meist nur wenige Cent dabei sparen. Auf den Märkten kaufen sie Gemüse nicht mehr kilo-, sondern stückweise. In den Speisekarten der Restaurants oder in den Supermärkten sind die Preisschilder schon mehrfach überklebt, weil sich die Preise so schnell ändern.

Welche Menschen können sich welche Produkte nicht mehr leisten?

Im Januar kam zur Inflation noch eine Steuererhöhung. Die Spirale von Preissteigerungen, Steuererhöhungen und Inflation trifft natürlich die ärmeren Bevölkerungsschichten, da sie im Verhältnis einen viel größeren Teil ihres Einkommens für Grundnahrungsmittel, Strom und Nahverkehr brauchen – das sind genau die drei Dinge, die aktuell enorm teuer werden. Die Regierung versucht, durch Maßnahmen wie die Verdopplung des Mindestlohns die sozialen Folgen der Inflation zu mildern. Bisher reicht das aber nicht. Es droht eine Verarmung breiter Bevölkerungsschichten. Selbst der wohlhabende Mittelstand kann sich Dinge nicht mehr leisten, die früher selbstverständlich waren. Etwa Reisen nach Europa.

Rund fünf Jahre nach dem Putschversuch in der Türkei sinken Erdogans Umfragewerte. Kann die hohe Inflation Erdogans politisches Aus bedeuten?

Das ist schwer vorherzusagen. Aber tatsächlich hätte laut Umfragen das Regierungsbündnis keine Mehrheit mehr. Der Staatspräsident verliert an Zustimmung und die Opposition erhält deutlichen Zulauf. Aktuell positioniert sich ein politisches Bündnis aus der größten Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) und fünf weiteren Parteien. Sie kritisieren vor allem die Wirtschafts- und Geldpolitik der Regierung und fordern vorgezogene Neuwahlen. Regulär ist die nächste Wahl im Juni 2023.

Worauf basiert der wirtschaftspolitische Kurs der derzeitigen Regierung?

Präsident Erdogan ist ein erklärter Gegner hoher Zinsen, was wesentlich zur hohen Inflation beiträgt. Die Situation kann man aber auch durch das wirtschaftspolitische Modell der Regierung erklären: Die Idee ist, durch niedrige Zinsen und damit billiges Geld das Wirtschaftswachstum ganz massiv in die Höhe zu treiben. Das ist aber auf Dauer nicht nachhaltig und stürzt die Türkei aktuell in eine Krise. Ironischerweise ist die Inflation heute etwa so hoch wie vor 20 Jahren, als Erdogan an die Macht kam. Man muss sagen, dass sein wirtschaftlicher Kurs zunächst sehr erfolgreich war. Der Regierung gelang es damals, die Inflation über zehn Jahre deutlich zu senken, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, es gab einen Bauboom und durch günstiges Geld wurden Kredite generiert, die Investitionen förderten.

Die Inflation macht aktuell Geschäfte mit internationalem Geld unattraktiv. Apple stellte kurzzeitig den Verkauf in der Türkei ein, die Versorgung mit medizinischen Produkten aus dem Ausland wackelt.

Ja. Das verstärkte sich im Dezember und wird natürlich auch in der Covid-Krise relevant. Medizinische Produkte und Medikamente aus dem Ausland werden teuer. Lokale Händler befinden sich jedoch in einem Zwiespalt, auch wenn sie nicht mit ausländischen Produkten handeln. Einerseits müssten sie die Preise erhöhen, um überhaupt Gewinne zu machen, andererseits wissen sie, dass Menschen sich den Einkauf ohnehin kaum leisten können. Die Händler machen zunehmend selbst Verluste, um ihre Kunden nicht zu verlieren.

Interview: Laura May

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