Der Bundestag hat in der Anfangsphase der Pandemie gescheut, Verantwortung zu übernehmen, kritisierte Horst Dreier, Rechtswissenschaftler an der Universität Würzburg und früheres Mitglied des Ethikrats. Im Interview erklärt er, wie er die Corona-Politik beurteilt und welche Probleme er bei der allgemeinen Impfpflicht sieht. Dreier ist Mitglied der „Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina“ und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
Sie haben das Handeln der Politik gerade zu Beginn in der Pandemie in verfassungsrechtlicher Hinsicht unter die Lupe genommen. Was sind Ihre größten Kritikpunkte?
Der Bundestag hat nach Beginn der Pandemie sieben bis acht Monate vergehen lassen, bis er als Gesetzgeber gehandelt hat. Zunächst beruhten alle Maßnahmen auf der Generalklausel des Infektionsschutzgesetzes, die war aber nur für einen kurzen lokalen Ausbruch gedacht, nicht für eine Pandemie. Wesentliche Entscheidungen, wie sie hier erfolgten, muss ein Gesetzgeber treffen. Zudem wurde dem Gesundheitsminister eine Ermächtigung erteilt, durch Rechtsverordnungen Gesetze zu ändern. Das hat die Normenhierarchie auf den Kopf gestellt, weil Gesetze über den Verordnungen stehen. Und das halte ich für verfassungswidrig.
Hat sich das Parlament gescheut, Verantwortung zu übernehmen?
Ich fürchte, ja. Viele Abgeordnete wollten sich vermutlich den Schuh nicht anziehen und keine Prügel von ihren Wählern beziehen.
Wie beurteilen Sie die Bundesnotbremse, die dann folgte?
Die war dann ein zentralistischer Overkill. Sie war mit Sicherheit kein Segen, weder verfassungsrechtlich noch für die Corona-Bekämpfung.
Aber war sie nicht auch eine Konsequenz aus Schwächen des Föderalismus? Manche Ministerpräsidenten haben ihr Handeln eher nach Landtagswahlen als an der Infektionslage ausgerichtet…
Das kann sein. Aber die Kanzlerin hat sich bisweilen auch an Bundestagswahlen orientiert. Ich würde den Stab nicht über den Föderalismus brechen. Der hat sich in der Pandemie eher bewährt. Die Kriterien sollten schon gleich sein. Aber man kann dann auf regionale Verhältnisse reagieren – und es gibt auch eine Art Wettbewerb um die besten Lösungen. Wir alle wissen ja nicht, was die beste Lösung ist.
Die langen Entscheidungen des Parlaments stoßen auf Unverständnis. Die Debatte über die Impfpflicht dauert nun auch viel länger als gedacht. Muss sich da etwas ändern?
Geschwindigkeit ist nicht alles. Außerdem sind die Unwägbarkeiten bei der Impfpflicht größer, als sich manche Politiker das gedacht haben, als sie vor Weihnachten die Fahne für die Impfpflicht schwenkten.
Wo sind Unwägbarkeiten?
Die Impfstoffe haben bisher alle nur eine vorläufige Zulassung. Außerdem müssen Impfungen wiederholt werden – man bekommt nicht wie bei Masern eine Spritze, und dann ist man immun. Weil vor allem die Älteren schwer erkranken und das die Gesundheitssysteme belastet, wäre eine altersspezifische Impfpflicht ab 50 Jahren, wie in Italien, meines Erachtens sinnvoller als eine Impfpflicht für alle ab 18.
Sie haben die GroKo für die Pandemie-Politik kritisiert. Was halten Sie von der Ampel-Regierung?
Die hat deutlich mehr auf das Parlament gesetzt und schon des Öfteren das Infektionsschutzgesetz geändert. Das scheint mir deutlich besser zu sein als vorher. Vielleicht hat das etwas mit der Aufbruchsstimmung zu tun.
War das Ende der epidemischen Notlage von nationaler Tragweite richtig?
Das war das große Versprechen, mit dem die Parteien angetreten sind, besonders die FDP. Danach hat man dann ins Infektionsschutzgesetz geschrieben, dass man bestimmte Maßnahmen auch ergreifen kann, wenn keine epidemische Notlage vorliegt. So ist man im Grunde fast wieder beim alten Rechtszustand – das war auch der neuen Situation mit Omikron geschuldet. Ich halte die Notlage nicht mehr für sinnvoll. Wir haben eine hohe Impfquote von derzeit 72,5 Prozent, Omikron-Infektionen verlaufen deutlich milder als bei Delta, und irgendwann muss mit dem Spuk ja mal Schluss sein.
Interview: Pia Rolfs