Berlin – Die Debatte ist fast zu Ende, als Karl Lauterbach ans Rednerpult geht. Nicht von seinem Platz als Gesundheitsminister auf der Regierungsbank, sondern aus den Reihen der SPD-Fraktion. „Die Freiheit gewinnen wir durch die Impfung zurück. Es ist das Virus, was uns belagert“, sagt also der Abgeordnete Lauterbach, Wahlkreis 101 Leverkusen – Köln IV. Angesichts beispiellos hoher Infektionszahlen diskutiert der Bundestag über die schwierige Frage, ob eine allgemeine Impfpflicht kommen soll. Lange wurde ein so tiefer Eingriff nahezu unisono ausgeschlossen, auch im Hoffen auf deutlich mehr freiwillige Impfungen. Nun kommt er also doch auf die Agenda.
Lauterbach tritt direkt Thesen entgegen, die starke Ausbreitung der Omikron-Variante mit eher milderen Corona-Verläufen könne diesen Schritt überflüssig machen. „Das ist leider nicht so.“ Er weist auf mögliche weitere, gefährlichere Varianten hin, die kommen könnten. Daher sei „der einzige Weg eine Impfpflicht, mit der wir uns alle gegenseitig schützen“. Und damit müsse man jetzt beginnen, weil es fünf bis sechs Monate Vorlauf brauche. Wenn man es aufschiebe, würde das Problem im Herbst in voller Stärke zurückkommen. „Das können wir diesen gefährdeten und belasteten Menschen nicht weiter zumuten“, sagt Lauterbach etwa mit Blick auf Kinder, Pflegekräfte, Ärzte.
Um das Für und Wider und auch praktische Fragen geht es in dieser „Orientierungsdebatte“ mehr als drei Stunden lang. So etwas gibt es im Parlament vor allem zu sensiblen ethischen Themen, zuletzt zum Beispiel zu lebensrettenden Organspenden.
Diesmal gab es aber schon Ärger um das Vorgehen: Die Ampel-Partner SPD, Grüne und FDP haben vereinbart, dass die Abgeordneten frei von üblichen Fraktionsvorgaben diskutieren und am Ende entscheiden sollen – auch, um nach der Impf-Kehrtwende zu einem Konsens zu finden. Offenkundig gibt es in der Koalition aber auch keine gemeinsame Linie dazu. Die Union spießt das als mangelnde Führung auf und verlangt hartnäckig einen Gesetzentwurf der Regierung.
CDU-Gesundheitsexperte Tino Sorge hält Kanzler Olaf Scholz „Versteckspiel“ vor und dass er keinerlei Richtung vorgebe. So eine Debatte hätte man sich vor Weihnachten gewünscht. Pauschale Lösungen seien fast immer schlecht, viele fachliche und verfassungsrechtliche Fragen nicht so einfach. Scholz verfolgt die Debatte, zu Wort meldet er sich nicht. Dabei hat der Regierungschef wiederholt klar gemacht, dass er für eine Impfpflicht ist – nur eben als Abgeordneter.
Drei große Argumentationslinien werden gestern deutlich. Dagmar Schmidt (SPD) wirbt für eine Pflicht ab 18 Jahren, die Abgeordnete aus den Ampel-Fraktionen vorschlagen: Es sollten alle Erwachsenen einbezogen werden, „damit alle mit allen solidarisch sind“. Till Steffen (Grüne) sagt, es sei kein geringer Eingriff. „Aber es ist die viel größere Zumutung, dass notwendige Operationen verschoben werden müssen.“
Gegen die Impfpflicht argumentiert FDP-Vize Wolfgang Kubicki, der auch eine entsprechende Initiative angestoßen hat. Er wolle nicht, „dass die Mehrheit für die Minderheit festlegt, was man als vernünftig anzusehen hat“. Andrew Ullmann von der FDP wirbt für einen dritten Ansatz: Pflicht-Aufklärungsgespräche für ungeimpfte Erwachsene und – wird die nötige Impfquote nicht erreicht – dann eine Impfpflicht ab 50. „Wir wollen die Menschen nur als ultima ratio zur Vernunft verpflichten.“
S. MEYER/M. FISCHER