München/Bonn/Berlin – Wäre Bundeskanzler ein Ausbildungsberuf – der Posten des Fraktionschefs im Bundestag gehörte als Pflichtstation auf dem Weg zu höchsten Weihen unbedingt dazu. Der Grund ist einfach: Wer eine Fraktion führt, muss das gesamte politische Themenspektrum beackern, Menschen führen, Mehrheiten organisieren und die gefundene Fraktionslinie dann selbstbewusst nach außen vertreten. Alle Großen ihrer Zunft – Konrad Adenauer (wenn auch nur kurz), Helmut Schmidt, Helmut Kohl und auch Angela Merkel haben den Fraktions-Spitzenposten als das erkannt und genutzt, was er ist: das Sprungbrett zur Regierungs-Macht.
Jetzt hat sich auch Friedrich Merz zusätzlich zum CDU-Parteivorsitz den Fraktionsvorsitz im Bundestag gesichert. Seit dem angekündigten Rückzug von Ralph Brinkhaus steht dem Sauerländer die Rückkehr auf jenen Stuhl offen, den er schon mal – vor genau 22 Jahren – im Februar 2000 erobert hatte. Merz war schon damals klar: „Es liegt in der Natur der Sache, dass der Fraktionsvorsitzende infrage kommt“, meinte er am 1. Februar 2001 zur Kanzlerkandidatur der Union.
Wenig später musste Merz allerdings eine schmerzhafte Erfahrung machen. Die von ihm völlig unterschätzte, aber machtbewusste und ehrgeizige Angela Merkel erkannte nach dem erfolgreichen Verdrängen Wolfgang Schäubles vom CDU-Vorsitz und dem Verzicht auf die Kanzlerkandidatur zugunsten Edmund Stoibers nach der verlorenen Bundestagswahl ebenso exakt wie Merz die Schlüsselrolle des Fraktionsvorsitzes. Obwohl Merz bei den Abgeordneten sehr viel Unterstützung hatte und sich heftig gegen seinen Sturz wehrte, gelang Merkel mit Hilfe Stoibers und der CSU der Aufstieg zur Oppositionsführerin. Es war das Ende des ersten Anlaufs von Merz ins Kanzleramt.
Dass Fraktionsvorsitzenden-Träume nicht immer auf Anhieb gelingen, mit der nötigen Geduld und taktischen Raffinesse aber durchaus im zweiten Versuch klappen können, dafür ist Helmut Kohl ein gutes Beispiel.
Der damalige junge und erfolgreiche Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz hatte bei seinem Sturmlauf auf die Macht (damals noch am Rhein) 1971 nicht nur gegen CDU-Chef Rainer Barzel auf dem Parteitag den Kürzeren gezogen. Trotz eines fulminanten 48,6-Prozent-Ergebnisses bei der Wahl 1976 gegen Helmut Schmidt (SPD) und seinen Koalitionspartner FDP war er geschlagen. Für Kohl war klar: Er musste seine geliebte Mainzer Staatskanzlei (mitsamt legendärem Weinkeller) mit der Oppositionsbank im Bundestag eintauschen. In der Bundeshauptstadt Bonn spielte damals politisch die Musik, wer Bundeskanzler werden wollte, musste hier in der ersten Reihe agieren. Und das hieß, Partei- und Fraktionsführung mussten zusammengelegt werden.
Das war aus mehreren Gründen wichtig: Zum einen konnte die Opposition nicht so leicht wie die Regierung dank ihrer zahlreichen Amtsträger – von Bundesministern bis hin zum Staatsoberhaupt – das öffentliche Interesse auf sich lenken. Dabei war dies in den 70er-Jahren bei nur drei Bundestagsparteien und zwei öffentlichen Fernsehsendern im Vergleich zu heute mit Dutzenden TV-Stationen und noch mehr sozialen Medien vergleichsweise einfach. Heute müssen Oppositionsparteien heftig um Aufmerksamkeit ringen, wenn sie in der Nachrichtenflut Beachtung finden wollen. Ein Politiker, der die Chefrolle in Partei und Opposition im Parlament vereint, tut sich leichter.
Im ersten Anlauf hatte es Merz nicht geschafft, als „Nur“-Fraktionschef ins Kanzleramt zu springen. Jetzt greift er – mit der doppelten Macht – noch einmal an. Auch Rekordkanzler Helmut Kohl, der „Kanzler der Einheit“, schaffte es erst im zweiten Versuch.