Die Grünen stehen vor neuen Grundsatzdebatten

von Redaktion

Wahlkampf, Wachstum, Mitbestimmung: Die Partei sortiert sich und behält das Kanzleramt im Blick

München – Für ein bisschen Gewusel reicht die Kulisse noch. Als der Führungswechsel besiegelt ist, fallen Omid Nouripour der Reihe nach Parteifreunde um den Hals. Ganz einsam ist so ein digitaler Parteitag nicht. Es herrscht kein großes Durcheinander bei den Grünen, wirkt aber in diesem Moment nicht so „antiseptisch“, wie Nouripours Vorgänger Robert Habeck noch am Freitag beklagt hatte. Gruppenfotos mit alten und neuen Parteichefs gibt es trotzdem nicht. Ricarda Lang, Nouripours künftige Co-Vorsitzende, ist wegen ihrer Corona-Erkrankung nur zugeschaltet.

Aus dem Zimmer ihres WG-Mitbewohners hatte sie ihre Bewerbungsrede gehalten. Sie erwähnt darin die vielen Fragen, die sie zur Ampel-Koalition beantworten müsse und zu den Kompromissen, die die Grünen nun eingehen müssen. Als „absurd“ empfindet sie diese latente Unzufriedenheit an Teilen der Basis. „Regieren ist doch keine Strafe, sondern eine riesengroße Chance.“ Am Ende erhält sie knapp 76 Prozent der Stimmen, Nouripour kommt auf 82,5 Prozent.

Ricarda Lang steht beispielhaft für die inhaltliche Bandbreite der Partei, die sich nicht immer auf einen gemeinsamen Nenner bringen lässt. Sie gehört selber dem linken Flügel der Partei an und war früher Chefin der Grünen Jugend, zuletzt aber auch schon Mitglied des Bundesvorstandes. In ihrem bisherigen politischen Leben war sie lange Zeit eher für die radikaleren Forderungen zuständig, nicht für die realpolitischen Lösungen. Jetzt muss sie erklären und auch mal eine Brücke bauen. Nach einem aufregenden Wahljahr herrscht viel Redebedarf bei den Grünen.

Deutlich wird das schon am Freitag, als Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann zugeschaltet ist. Er übt scharfe Kritik am Wahlkampf („Milieupartei“) und fordert, man müsse künftig wirtschaftsfreundlicher agieren. Solche Grundsatzdebatten dürften den Grünen noch einige bevorstehen.

Es wird nicht nur um den Wahlkampf gehen, der trotz eines Rekordergebnisses ernüchternd endete und dessen Aufarbeitung auch Omid Nouripour wichtig ist. Der Bundesvorstand wird erst seine Rolle finden müssen im Zusammenspiel mit der Fraktion und den Regierungsmitgliedern, die weiterhin viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen werden. Wenn die Partei, die bisher vor allem in den Städten stark ist, weiter wachsen will, muss sie zudem auch die ländlichen Regionen für sich erschließen. Denn Ziel der Grünen sei, so drückt es Nouripour aus, „wieder in der K-Frage mitspielen zu können“.

Bei aller Freude über die wiedererkämpfte Regierungsverantwortung ist auf dem Parteitag auch manches Unbehagen spürbar, zuweilen sogar ein regelrechtes Misstrauen gegenüber der Macht. Deutlich wird das nicht nur beim Versuch, die für die Grünen heilige Trennung von Parteiamt und Mandat noch strikter zu definieren (es bleibt dann aber beim Versuch). Auch der Vorstoß der Parteiführung, die Hürden für Anträge zu Parteitagen deutlich zu erhöhen, um die Flut der Eingaben einzudämmen, schafft es nicht. Lediglich eine moderate Erhöhung von 20 auf 50 Unterstützer wird verabschiedet.

Am Ende überwiegt trotzdem die Harmonie. Habeck und Annalena Baerbock werden mit viel Dankbarkeit verabschiedet, die Wahlen enden mit klaren Ergebnissen. Die bayerische Fraktionschefin Katharina Schulze fährt im Parteirat das beste aller Kandidaten ein. Es mag viel zu diskutieren geben bei den Grünen. Aber durchaus auch etwas zu feiern. MARC BEYER

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