Dänemark: Ein Land macht sich frei

von Redaktion

VON MARC BEYER

München – Ein wenig Pathos kann sich Mette Frederiksen in diesem Moment nicht verkneifen. Sie sage „Auf Wiedersehen“ zu allen Einschränkungen und „Willkommen zu dem Leben, wie wir es vor Corona kannten“, schwelgte Dänemarks Ministerpräsidentin, als sie vergangene Woche die Aufhebung nahezu aller Maßnahmen ankündigte. Seit gestern muss keine Maske mehr getragen werden, keine Impfung nachgewiesen und kein negatives Testergebnis vorgelegt. Großveranstaltungen sind ebenso erlaubt wie der Besuch von Bars und Diskotheken. Nur einige wenige Einreiseregeln haben weiterhin Bestand.

Europa hat in den zwei Pandemiejahren schon öfter über Dänemark gestaunt. Im Sommer 2021 zum Beispiel, als das kleine Land im Norden die höchste Impfquote des Kontinents aufwies. Aber auch ein paar Monate später, als die Regierung in Kopenhagen zum ersten Mal auf großflächige Lockerungen setzte, während der Rest mit banger Erwartung dem Herbst entgegenblickte. Sie hielt den Kurs nicht lange durch. Als die Delta-Variante für steigende Infektionszahlen und massive Belastungen im Gesundheitssystem sorgte, zog die Ministerpräsidentin die Notbremse.

Nun ist es abermals so weit, und der Zeitpunkt sorgt international erneut für Aufsehen. Europaweit liegen die Dänen bei den Infektionen auf Platz zwei (hinter den Färöer-Inseln). Die Sieben-Tage-Inzidenz betrug gestern 5236 – mehr als viermal so viel wie in Deutschland. Allein in den letzten zwei Wochen stieg sie um über 2000. Dennoch gilt Corona nun offiziell nicht mehr als „gesellschaftskritische Krankheit“, was bisher das entscheidende Kriterium war für alle Einschränkungen. Frederiksen verweist auf die milden Verläufe, die entspannte Lage in den Krankenhäusern und die hohe Impfbereitschaft. Fast 82 Prozent der Dänen sind vollständig geimpft, über 60 Prozent geboostert. Gesundheitsexperten gehen zudem von einer länger anhaltenden Immunität durch die starke Verbreitung der Omikron-Variante aus. „Wir sind durch die kritische Phase durch“, ist die Ministerpräsidentin überzeugt.

Die Fakten und Argumente sind in weiten Teilen die gleichen wie in anderen Ländern. Der Unterschied liegt in den Schlussfolgerungen – und in der Radikalität der Umsetzung. Während sich die meisten Länder über vorsichtige Schritte nicht hinauswagen, entscheidet sich die Regierung in Kopenhagen für eine bedingungslose Öffnung. Sie ist überzeugt, dass die Bürger mit den Freiheiten – und einem Appell an Vorsicht und Vernunft – umgehen können. „Es ist eine Frage der Psychologie“, sagt Tom Petersen, Chef des Dänischen Gesundheitsdienstes für Südschleswig, der von Flensburg aus die Landsleute südlich der Grenze betreut. „Wenn bei uns Vater Staat dir sagt, das ist gut für dich, dann folgen die Dänen.“

Deshalb gab es beim Thema Impfen keine Grundsatzdebatte, wie sie in Deutschland noch immer tobt. Und auch die Corona-Demos wurden nie zu einer solchen Massenbewegung, wenngleich es sie auch im Norden gab. „Men in Black“ nennt sich die Gruppe, die hinter den Protesten stand. Petersen verortet sie weit rechts und unterstellt ihnen ein grundsätzliches Misstrauen gegen die Regierenden, der mit Corona aber wenig zu tun habe. Wenn die Pandemie eingedämmt ist, „werden sie gegen etwas anderes sein“.

Unumstritten ist der Weg der vollständigen Öffnung freilich nicht. Aus dem Gesundheitswesen gab es angesichts explodierender Infektionszahlen ebenso mahnende Stimmen wie aus Kindertagesstätten, die unter dem Personalmangel leiden und den Betrieb mit Aushilfen aufrechterhalten müssen. An der grundsätzlichen Haltung ändert das aber nichts. Eine Umfrage der Zeitung „Politiken“ ergab diese Woche, dass 64 Prozent der Bürger Vertrauen in die Corona-Politik der Regierung haben.

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