GEORG ANASTASIADIS
Ist Russlands Überfall auf die Ukraine noch abzuwenden? Wenn es schlecht läuft, dann war Bundeskanzler Scholz der letzte westliche Staatschef, der Kiew in Friedenszeiten besucht hat. Heute spricht der Kanzler im Kreml vor. Es ist der vielleicht letzte Versuch, die Katastrophe zu stoppen und Putin vom Angriffsbefehl abzuhalten. Noch hat sich das Fenster für Verhandlungen nicht geschlossen. Darauf deutet der – von Putin sogleich befürwortete – gestrige Vorschlag des russischen Außenministers Lawrow hin, die Suche nach einer Lösung noch nicht zu beenden.
Schon möglich, dass sich der Kremlchef verrannt hat und selbst nach einem Ausweg sucht. Putin, dessen angebliche Einkreisungsängste stets als Vorwand für Russlands aggressives Verhalten herhalten müssen, hat das Nachbarland in einem Truppenaufmarsch von epischem Ausmaß umzingelt. Doch sein Erpressungsmanöver droht zu scheitern: Die Nato steht überraschend geschlossen und ist nicht bereit, dem Autokraten zu geben, was er so ultimativ verlangt – die Erklärung zum Rückzug des Westens aus den Gebieten, die der Kremlherr in neoimperialistischer Manier zu seinem Vorhof erklärt. Ein gesichtswahrender Rückzug wird für Putin mit jeder Stunde schwieriger. Auch für den scheinbar allmächtigen Präsidenten steht viel auf dem Spiel. Entschließt er sich gegen den Rat vieler seiner ehemaligen Generäle zum Angriff, wird er, das hat ihm der Westen inzwischen unmissverständlich klar gemacht, einen horrenden Preis zu zahlen haben: wirtschaftlich, politisch, aber auch militärisch. Das 44-Millionen-Einwohnerland Ukraine mag für Moskaus hochgezüchtete Panzer schnell zu überrollen sein. Langfristig aber könnte es trotzdem zum Friedhof für viele russische Soldaten werden.
Anders als die fast spielerische Besetzung der Krim dürfte ein brutaler Krieg gegen das orthodoxe Brudervolk die russische Bevölkerung kaum in einen neuen nationalistischen Taumel versetzen. Für den Herrscher auf Lebenszeit ist das gefährlich. Schließlich diente das ganze Ukraine-Manöver ja dem Zweck, eine neue Putin-Euphorie in der Heimat zu entfesseln. Bleibt diese aus, könnte ein Krieg für ihn noch zum Bumerang werden.
Georg.Anastasiadis@ovb.net