München – Bei dieser 58. Sicherheitskonferenz wurde nicht nur abstrakt über Abschreckung und Diplomatie gesprochen – sie wurde ganz real vom Krieg diktiert. Ob der ukrainische Präsident nach München kommen konnte, schien da weniger Siko-Chef Wolfgang Ischinger zu bestimmen, sondern Wladimir Putin. Noch am Samstagabend soll US-Präsident Joe Biden Wolodymyr Selenskij gewarnt haben, angesichts eines unmittelbar bevorstehenden russischen Angriffs Kiew besser nicht zu verlassen. Doch Selenskij kam – und hielt eine Rede, die wohl eine der bemerkenswertesten in der Geschichte der Siko war.
„Mir ist es wichtig, dass, wenn über die Ukraine diskutiert wird, wir mitsprechen – und nicht Abkommen hinter unseren Rücken gemacht werden“, begründete Selenskij sein Kommen trotz der Gefahr eines baldigen Überfalls. Sein Land sei während seines Besuchs in guten Händen: „In den Händen unserer Soldatinnen und Soldaten.“
Selenskij berichtete sichtlich aufgewühlt von seinem jüngsten Besuch an der ostukrainischen Front – „an der Grenze zwischen der Schule und der Rakete, die in den Schulhof einschlägt“. Selenskij warf Russland vor, angebliche ukrainische Angriffe selbst zu provozieren. Die Welt sage, dass sie keinen Krieg möchte, während Russland sage, es wolle nicht angreifen. „Irgendjemand lügt hier“, so Selenskij.
Dass er auf wiederholte US-Geheimdienstinformationen, ein russischer Angriff stehe unmittelbar bevor, abwiegelnd reagiert hatte, begründete Selenskij damit, dass mögliche Panik Teil von Putins hybrider Kriegsführung sei: „Wie kann man in einem Land leben, über das jeden Tag gesagt wird: Morgen kommt der Krieg?“ Dies würde die ukrainische Wirtschaft destabilisieren.
Selenskij forderte die Europäer auf, die „Appeasement-Politik“ gegenüber Putin zu beenden und der Ukraine einen „klaren“ Zeitrahmen für einen Nato-Beitritt zu geben. Ihm sei klar, dass es bis zu einem Nato-Beitritt Jahre dauern könne – „aber bis dahin brauchen wir Sicherheitsgarantien“, forderte der Ukrainer. „Sanktionen sollen jetzt kommen, nicht erst, wenn der Krieg beginnt.“ Selbst die Forderung, wenigstens jetzt schon die Sanktionsliste zu veröffentlichen, finde bislang keine Unterstützung, zeigte sich Selenskij von Europäern und Amerikanern enttäuscht.
US-Vizepräsidentin Kamala Harris hatte Russland bei ihrem Siko-Auftritt zuvor vor „nie dagewesenen“ wirtschaftlichen Sanktionen gewarnt, sollte es zu einer „weiteren“ Invasion in der Ukraine kommen. Die USA seien weiter offen für Diplomatie, doch das Handeln Russlands „passt nicht zu den Worten“. Rund 6000 zusätzliche US-Soldaten seien an die Nato-Ostgrenze geschickt worden. „Sie werden nicht innerhalb der Ukraine kämpfen, aber jeden Quadratmeter Nato-Gebiet verteidigen“, drohte Harris. Die US-Vizepräsidentin betonte, dass die Krise innerhalb der Nato „eine unglaubliche Geschlossenheit“ geschaffen habe.
Auch demokratische und republikanische US-Abgeordnete, die sonst in so vielen Fragen gespalten seien, seien in der Abwehr einer russischen Aggression geschlossen. Aber dem enttäuschten, fast schon verzweifelt wirkenden Selenskyj reicht all das wohl nicht: „Wir werden hier vergessen“, so seine Befürchtung. „Einige Länder begehen Verbrechen, andere bleiben gleichgültig – eine Haltung, die sie zu Komplizen macht.“