Moskau/Kiew/München – In der ukrainischen Hauptstadt Kiew – von der Nato immer wieder als mögliches Angriffsziel Russlands genannt – sind viele Menschen immer noch recht gelassen. Bei frühlingshaftem Wetter sitzen die Menschen in gut gefüllten Cafés und Restaurants. Straßenmusiker sorgen für Unterhaltung. Eine erhöhte Polizei- oder Militärpräsenz ist weiter nicht zu sehen. Das könnte sich ändern.
Die ukrainische Regierung bereitet sich auf das Schlimmste vor. Das Militär ordnete gestern die Mobilmachung von rund 250 000 Reservisten im Alter von 18 bis 60 Jahren an. Sie sollen im Falle eines russischen Einmarsches die rund 200 000 ukrainischen Soldaten unterstützen. Am Vortag hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine „allgemeine Mobilisierung“ noch ausgeschlossen.
Donezk und Luhansk bitten Kreml um Hilfe
Passend zu diesem Sinneswandel berichtete „Newsweek“ unter Berufung auf US-Geheimdienstquellen, die USA hätten die Ukraine gewarnt, dass Russland seine Invasionspläne innerhalb von 48 Stunden umsetzen wolle. Der Kreml teilte am Abend mit, die selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk hätten Präsident Putin um militärischen Beistand gebeten, um „die Angriffe der ukrainischen Streitkräfte zurückzuschlagen“ und „zivile Opfer zu vermeiden“. Die Bitte könnte als Vorwand dienen, um aus russischer Sicht ein Eingreifen zu legitimieren.
Das ukrainische Parlament bestätigte am Abend mit überwältigender Mehrheit die Verhängung des Ausnahmezustandes, den der Sicherheitsrat zuvor gebilligt hatte. Zudem billigte das Parlament in erster Lesung einen Gesetzentwurf, der Privatpersonen das Tragen von Schusswaffen erlaubt. Ein Land bewaffnet sich.
Es scheint, als könnte die Zeit der Diplomatie erst einmal vorbei sein. Zwar betonen weiterhin alle Seiten ihre Gesprächsbereitschaft, doch tatsächlich miteinander gesprochen wird kaum noch. US-Außenminister Antony Blinken sagte ein für heute geplantes Treffen mit seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow ab – es mache derzeit „keinen Sinn“. Das Weiße Haus schloss auch ein Treffen von US-Präsident Joe Biden mit Putin vorerst aus. Und Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) warf dem russischen Präsident Lügen vor. „Wenn man vor einer Woche A gesagt hat und jetzt das Gegenteil tut, dann hat man nicht die Wahrheit gesagt. Oder auf Deutsch: Dann hat man gelogen.“ Die Bundesregierung bestellte den russischen Botschafter ein.
Nun hofft der Westen, dass seine Strafmaßnahmen Wirkung zeigen. Die USA, die EU, Großbritannien, Australien, Kanada und auch Japan erließen eine Welle von Sanktionen. Putin selbst steht nach EU-Angaben nicht auf der Liste, dafür aber sein Verteidigungsminister Sergej Schoigu.
Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) hat berechnet, dass vor allem ein Energieembargo der EU die russische Wirtschaft schwer treffen würde – Deutschland und die EU aber kaum. „Demnach hätte ein Handelsstopp mit Gas einen Einbruch der russischen Wirtschaftsleistung um knapp 3 Prozent zur Folge, ein Handelsstopp mit Öl einen Einbruch um gut 1 Prozent“, lautet der Befund.
Russlands Präsident kündigte gestern auf die Sanktionen eine „starke Antwort“ an. In seinem Land ist die Stimmung gemischt. Ultranationalisten und konservative Kräfte, aber auch Kommunisten und die einflussreiche russisch-orthodoxe Kirche sind erwartungsgemäß entzückt über das aggressive Großmachtstreben. Ein Kirchenfürst lobte Putin für die „Heilung von einer historischen Amnesie“.
Milliardenschäden durch Sanktionen
Aber es gibt auch viele Pragmatiker, Unternehmer, Intellektuelle, Künstler, liberale Kräfte, soweit sie noch nicht in den Westen ausgewandert sind, die offen ihr Entsetzen äußern. Der prominente Blogger Juri Dud, der ein Millionenpublikum hat, warf dem „Imperator“ Putin vor, mit der Geschichte zu spielen. In Moskau ist nichts zu spüren von der Euphorie, wie sie damals bei der „Wiedervereinigung“ mit der Krim herrschte. Seit der Annexion ist bei vielen Russen Ernüchterung eingetreten – nicht nur wegen der hohen Kosten, sondern auch wegen des Ansehensverlusts des Landes in der Welt. Die Sanktionen des Westens haben Milliardenschäden verursacht, die großen Infrastrukturprojekte auf der Halbinsel haben riesige Summen aus dem Staatshaushalt verschlungen, die anderen Regionen fehlen.
Viele Russen haben über eine schlaflose Nacht geklagt nach Putins Rede am Montag, weil er mit der Anerkennung der Separatistengebiete die Existenzberechtigung der Ukraine infrage stellte. Gedanken an einen Krieg mit den vielfach auch familiär verbundenen Ukrainern lassen die Menschen erschaudern. Das russische Staatsfernsehen zeigt seit Tagen Bilder von Explosionskratern und zerstörten Gebäuden in den Regionen Luhansk und Donezk – und von ostukrainischen Flüchtlingen. Was davon Lügenpropaganda, was echtes Unheil ist, können viele in Russland kaum auseinanderhalten. Eine Flüchtlingswelle erwarten aber auch die USA. Ihre UN-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield sagte, bis zu fünf Millionen Menschen könnten vertrieben werden.