Deutschland rüstet auf

von Redaktion

VON MICHAEL FISCHER

Berlin – Es ist die erste Bundestagssitzung in der neuen Zeit nach dem Frieden in Europa. Vor dem Reichstagsgebäude wehen drei Flaggen: Die europäische, die deutsche und eingerahmt davon die gelb-blaue der Ukraine, des von den Truppen des russischen Präsidenten Wladimir Putin seit mehr als drei Tagen attackierten Landes.

Am 82. Tag seiner Amtszeit tritt Kanzler Olaf Scholz um 11.07 Uhr ans Rednerpult, um eine halbe Stunde lang über einen Krieg zu reden, an dem sich bald auch Deutschland beteiligt. Nicht mit Soldaten, aber mit Waffen, deren Lieferung die Bundesregierung wenige Stunden zuvor genehmigt hat. Aber das ist längst nicht alles.

Die Rede des Kanzlers markiert eine historische Kehrtwende in der deutschen Sicherheitspolitik. Die Zurückhaltung hat ein Ende – vor allem die militärische.

„Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents“, sagt Scholz über das Datum des Kriegsbeginns. „Am Donnerstag hat Präsident Putin mit seinem Überfall auf die Ukraine eine neue Realität geschaffen. Diese neue Realität erfordert eine klare Antwort. Wir haben sie gegeben.“

Es ist eine Kehrtwende in mehrfacher Hinsicht: Deutschland liefert tödliche Waffen in einen laufenden Krieg – 1000 Panzerfäuste und 500 Luftabwehrwaffen vom Typ „Stinger“. Außerdem wird den Nato-Partnern Niederlande und Finnland die Lieferung von Waffen erlaubt, die ursprünglich aus Deutschland stammen. Die Bundesregierung hatte die Forderung der Ukraine nach Waffen monatelang abgeblockt unter Verweis auf die strengen deutschen Rüstungsexportrichtlinien, die Waffenlieferungen in Krisengebiete untersagen.

Es hat Ausnahmen gegeben: So wurden den kurdischen Peschmerga-Kämpfern im Irak Waffen geliefert, um einen Völkermord der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) an den Jesiden zu verhindern. Jetzt werden die gelieferten Waffen aber nicht gegen Terroristen, sondern gegen die Armee einer Atommacht mitten in Europa gerichtet – eine neue Dimension.

Für die Bundeswehr legt die Regierung ein Aufrüstungsprogramm von historischem Ausmaß auf: Ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro soll für Investitionen in die Truppe und ihre Ausrüstung gebildet werden. Der Verteidigungsetat soll von nun an jedes Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen. Gegen dieses Zwei-Prozent-Ziel der Nato haben sich SPD und Grüne lange Zeit gesträubt. Jetzt wird es im Handstreich beschlossen.

Auch bei den Sanktionen gegen Russland stand Deutschland erst auf der Bremse, um jetzt richtig Gas zu geben. Der am Samstagabend zwischen mehreren westlichen Staaten besiegelte Ausschluss einiger russischer Banken aus dem Kommunikationssystem Swift gilt als die schärfste Sanktion, die bisher gezogen wurde.

Scholz hat es geschafft, mit einem kraftvollen Auftritt im Bundestag aus der Defensive zu kommen. Das erkennt selbst Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) an, der nichts auszusetzen hat an den Ankündigungen des Regierungschefs. „Eine gute Regierungserklärung“, sagt er.

All das hört sich auf der Besuchertribüne der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk an. Am Sonntag wird er im Bundestag minutenlang mit Applaus begrüßt. Für ihn ist es eine späte Genugtuung. „Ich habe meinen deutschen Freunden und der Bundesregierung immer gesagt, dass sie die schrecklichen Bilder vom Krieg in der Ukraine nicht lange ertragen werden, ohne zu reagieren und umzusteuern“, sagt er.

Den größten Applaus der Bundestagsabgeordneten erhalten an diesem besonderen Tag aber diejenigen, die in ganz Deutschland und weltweit gegen den Krieg demonstrieren. Nicht weit vom Reichstagsgebäude, zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule, haben sich mehr als 100 000 Menschen versammelt – die größte Friedensdemonstration, die Berlin seit sehr langer Zeit gesehen hat.

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