„Substanz statt Umfrage-Politik“

von Redaktion

Mit dem Angriff auf die Ukraine hat sich die Weltlage dramatisch geändert, Europa erlebt einen Krieg. Politik wird noch ernster, grundsätzlicher. CSU-Vize Manfred Weber fordert seine Partei auf, sich wieder mehr um Außenpolitik und etwas weniger um kleinteilige Stimmungen und Umfragen zu kümmern. Weber wird heute von der CSU-Spitze offiziell nominiert, um die konservative Parteienfamilie EVP in Europa zu führen. Wir haben am Sonntag mit dem Niederbayern (49) gesprochen.

Herr Weber, helfen Sie uns auf die Sprünge. Seit elf Tagen ist Krieg in der Ukraine, aber aus der sonst so wortgewaltigen CSU ist wenig zu hören. Täuschen wir uns?

Der CSU-Vorstand wird heute klare Beschlüsse zur aktuellen Krise fassen, Pflöcke einrammen. Das hätten wir sicher auch schon vor einer Woche machen können. Die CSU muss in der internationalen Politik wieder ein stärkeres Profil gewinnen. Diese Aufgabe wird uns von Angela Merkel nicht mehr abgenommen. Wir müssen und werden stärker präsent sein: Naivität aufgeben, Grundüberzeugungen in der Außenpolitik formulieren und dafür eintreten, und zwar egal, von woher der Wind kommt.

Der Krieg erwischt die oft russlandfreundliche CSU auf dem falschen Fuß. Vor wenigen Wochen noch verlangte CSU-Chef Söder ja sogar die Freigabe der Ostseepipeline. Unklug?

Vor einigen Wochen hat der gesamte Westen noch in einer anderen Welt gelebt. Aber wer es sehen wollte, konnte es sehen: Wir haben es mit einer aggressiven russischen Führung zu tun. 2014, als Putin die Krim besetzt und mit militärischer Gewalt Völkerrecht gebrochen hat, habe ich auf dem Politischen Aschermittwoch härtere Sanktionen gefordert. Damals saß übrigens der russische Botschafter im Publikum.

Konkret: Sollten wir unsere Gas- und Ölimporte aus Russland stoppen?

Ich fürchte, die Brutalität des Krieges wird in den nächsten Tagen zunehmen. Die Ukrainer kämpfen gerade unseren Kampf für Freiheit und Demokratie. Vor diesem Hintergrund: Wenn es zu einer weiteren Eskalation des Krieges kommt, müssen wir unabhängig werden von Russlands Energie. Gerade Öl und Kohle können wir mit anderen Partnern ersetzen. Wir reden laut Studien über 660 Millionen Euro, die wir Europäer täglich – täglich! – für Energielieferungen an Russland überweisen. Wir sollten, wenn notwendig, die Reißleine ziehen. Beim Gas die Leitungen zu kappen, wäre dann die nächste Option.

Stellen Sie sich hinter Söders Vorstoß, die Atommeiler drei bis fünf Jahre länger laufen zu lassen?

Wir leben in einer neuen Welt, müssen alles überdenken. Europa muss seine eigenen Gasreserven stärker nutzen. Wir sollten darüber nachdenken, temporär Atomkraftwerke in Europa weiterlaufen zu lassen. Und wir müssen uns mit der Nahrungsmittel-Versorgung befassen. Mit Russland und der Ukraine fallen zwei der größten Agrarproduzenten der Welt weitgehend aus. Wir sollten diskutieren, ob wir uns in so einer Lage Flächenstilllegungen in Bayern leisten können.

Strauß und Stoiber waren immer auch Europapolitiker. Seehofer kaum, Söder fast gar nicht. Wäre das anders, wenn für ihn ein paar nette Selfies bei Instagram heraussprängen?

(lächelt) Soziale Medien gehören zu unserem Geschäft, das mache ich, das macht Markus Söder. Der entscheidende Punkt ist: Spüren die Leute, dass wir Substanz haben? Sehen sie eine Grundorientierung der CSU? Die Menschen sind nachdenklich, sorgenvoll. Sie wollen von Politik Orientierung, Ehrlichkeit und Überzeugung. Meine Überzeugung ist: Unser CSU-Ansatz muss stärker europäisch sein. Strauß hat von einer europäischen Armee und europäischer Identität gesprochen. Ich will das ergänzen mit europäischer Souveränität: Energie, Nahrungsmittel.

Die CSU wird Sie heute als Vorsitzenden der europäischen Volksparteien vorschlagen. Lautet die neue Arbeitsteilung: CSU-Chef Söder beackert Wunsiedel, EVP-Chef Weber die Welt?

Wir machen das miteinander. Wir wollen das Team zeigen, das die Menschen überzeugt. Klar ist: Wer die größte Parteienfamilie Europas führen will und zugleich die größte Fraktion im Parlament führt, steht für den außenpolitischen Anspruch der CSU. Das heißt: profiliert auftreten, überzeugen, nicht nach Umfragen Politik machen. Das ist mein Politikstil. Für mich ist das übrigens auch ein Abschluss von 2019, meiner gescheiterten Kandidatur als Kommissionspräsident und dem Schaden, den Europas Demokratie damals im Hinterzimmer genommen hat. Ich bin voll da, ich möchte Führung übernehmen und kämpfe weiter für eine demokratische EU.

CDU-Chef Merz hat darüber räsoniert, dass Putins Angriffe auf ukrainische Atommeiler Europas Sicherheit gefährden und den Bündnisfall auslösen könnten. Was haben Sie sich dazu gedacht?

Fachlich ist das richtig beschrieben. Aber wir sollten klarstellen: Die Nato-Partner müssen alles vermeiden, um Russland einen Vorwand für eine weitere Eskalation zu geben. Es ist kein Konflikt der Nato.

Fürchten Sie, das wird in einen Atomkrieg ausarten, oder ist das übertrieben?

Putin träumt von einem großrussischen Reich. Eine militärische Eskalation kann nicht in seinem Interesse sein. Insofern sollten wir jetzt entschlossen, geschlossen, aber auch besonnen sein. Eine meiner Hauptsorgen gilt aktuell der Flüchtlingssituation, die auf uns zukommt. In den ersten zehn Tagen dieses Krieges sind mehr Menschen in der EU angekommen, als im ganzen Jahr 2015. Auch das fordert uns sehr.

Ausgerechnet ein CSU-Minister hat die Wehrpflicht abgeschafft. War das ein Fehler, der korrigiert werden muss?

Jede Zeit hat ihre Antworten. Damals hatten wir extreme Wehrungerechtigkeit, einen unhaltbaren Zustand. Ich glaube aber, dass wir heute eine allgemeine Dienstpflicht nicht für immer ausschließen sollten. Das könnte Teil der CSU-Programmatik und unseres neuen Grundsatzprogramms sein. Kurzfristig ist sie nicht zielführend.

Interview: Georg Anastasiadis, Christian Deutschländer

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