Atom-Verlängerung: Kretschmann gegen „Denkverbote“

von Redaktion

Für Bundesminister ist weitere Kernkraftnutzung „aus Sicherheitsgründen“ vom Tisch – Kohle-Meiler als Reserve

Berlin – Nach der russischen Drohung, die Gaslieferungen nach Europa via Nord-Stream-1-Pipeline einzustellen, gewinnt die Debatte um die Energieversorgung in Deutschland zusätzlich an Fahrt.

Gestern trafen sich die Energieminister von Bund und Ländern auf einem Sondertreffen. Für die grünen Bundesministerien für Umwelt- und Wirtschaft ist die Verlängerung der Atomlaufzeiten vom Tisch – vor allem aus Sicherheitsgründen. Sie stehen damit gegen die Haltung der Süd-Länder Bayern und Baden-Württemberg. Der Bund und die Nord-Länder sehen stattdessen im raschen Ausbau erneuerbarer Energien das entscheidende Mittel, um die Abhängigkeit von Energieimporten aus Russland zu überwinden. Der beschleunigte und verstärkte Ökostromausbau sei „von überragender Bedeutung für die nationale Sicherheit“, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) nach dem Treffen. Eine vorläufige Absage erteilte er erneut einem Stopp von Gas-, Kohle- und Ölimporten aus Russland. Als eine Maßnahme kündigte er an, dass Kohlekraftwerke zwar wie geplant abgeschaltet, grundsätzlich aber als Sicherheitsreserve betriebsbereit gehalten würden.

Die Hoffnung, Energieengpässe durch längere Laufzeiten der Kernkraftwerke auszugleichen, ist in der Industrie umstritten. Eine Sprecherin von PreussenElektra, eine Eon-Tochterfirma, wies darauf hin, dass die Lieferung neuer Brennstäbe lange dauern würde. „Nach einer ersten Abschätzung gehen wir davon aus, dass frische Brennelemente in gut 1,5 Jahren zur Verfügung stehen könnten“, sagte sie der „Rheinischen Post“.

Dagegen weist Nicolas Wendler, Sprecher des Verbands „Kerntechnik Deutschland“, auf Anfrage unserer Zeitung darauf hin, dass es in den aktiven Atomkraftwerken durchaus Reserven für Restaktivitäten gebe. Dies sei jedoch von Reaktor zu Reaktor unterschiedlich und müsse deshalb im Einzelfall überprüft werden. Zudem gebe es die Möglichkeit, durch Reduktion der Leistung eine längere Nutzung der Brennstäbe zu ermöglichen, so Wendler.

Der beschleunigte Atom-

ausstieg wurde 2011 gesetzlich beschlossen. Als letzte Meiler abgeschaltet werden nach dem gültigen Atomgesetz spätestens am 31. Dezember die Kraftwerke Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2. Zur Sicherheit der Energieversorgung hatte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) eine mehrjährige Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken gefordert.

Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) schließt eine Verlängerung der Laufzeiten für Kohle- und Atomkraftwerke nicht grundsätzlich aus. Bundeswirtschaftsminister Habeck habe zurecht gesagt, die Versorgungssicherheit müsse gewährleistet sein und es dürfe keine Denkverbote geben. „Das sehe ich auch so“, sagte Kretschmann der „SZ“.

Ganz anders sieht das seine Parteifreundin, Bundesumweltministerin Steffi Lemke. Die Grüne hält längere Laufzeiten der Atomkraftwerke für nicht sinnvoll und vertretbar. Einem kleinen Beitrag zur Energieversorgung stünden große wirtschaftliche, rechtliche und sicherheitstechnische Risiken entgegen, so Lemke.

Ins gleiche Horn stößt der Präsident des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung in Deutschland, Wolfram König: „Wir erleben gerade, wie ein Krieg mit konventionellen Waffen gegen Atomanlagen die zivile Nutzung der Kernenergie in eine bislang kaum vorstellbare Risikolage für Mensch und Umwelt bringen kann.“ ALEXANDER WEBER

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