Der ukrainische Undiplomat

von Redaktion

Mit scharfen Worten kämpft Botschafter Melnyk in Berlin um Waffen und Hilfe für sein Land

Berlin – Diese Szene würde Top-Diplomaten normalerweise die Karriere zerstören, aber was ist schon noch normal. Nach einer Talkrunde mit dem SPD-Außenpolitiker Michael Roth läuft Botschafter Andrij Melnyk verärgert aus dem Raum, schimpft, nie sage Roth die Wahrheit, laufe davor weg. Und dann, im Rausgehen an der Drehtür, ruft Melnyk laut: „Arschloch“.

Beobachtet hat diesen verstörenden Moment ein Reporter des „Spiegel“ für eine fünfseitige Porträt-Strecke im Magazin über den derzeit bekanntesten und ungewöhnlichsten Diplomaten der Republik. Melnyk hat die Aufgabe, sein vom russischen Angriffskrieg überrolltes Land in Deutschland zu vertreten. Er tut es nicht mit Floskeln und der unterwürfigen Entgegennahme von Kondolenztelegrammen – sondern mit aller Macht der Worte, mit Mut und mit Wut. Der Diplomat, 1975 in Lwiw im Westen der Ukraine geboren, verlangt Waffen und Hilfe für sein Land. Laut und immer wieder, im Fernsehen, in Zeitungsinterviews, in Gesprächen mit Politikern und in Auftritten vor Parlamenten.

Auch am Donnerstag wieder. „Man darf uns nicht im Stich lassen. Wir sind da. Wir kämpfen. Für uns, für unser Leben, für unsere Kinder. Aber wir kämpfen auch für Sie. Wir kämpfen auch für Ihre Freiheit“, ruft Melnyk bei einem Auftritt im Berliner Abgeordnetenhaus. Er verlangt Waffen für sein Land, er fordert eine Luftbrücke nach Berliner Vorbild für Kiew. „Es gibt eine Liste von Waffensystemen, die wir erwarten“, hatte er am Morgen im ZDF gesagt. Und stets erlebt er seit Kriegsbeginn dasselbe: Die deutschen Politiker erheben sich, klatschen. Aber sie folgen seinen Forderungen nicht.

Bewusst nicht. In die Ukraine Kriegswaffen zu liefern, könnte die Deutschen, die ganze Nato, in den Krieg reinziehen. Deshalb nur die 5000 Helme, deshalb so spät die Haubitzen aus DDR-Beständen, deshalb das verdruckste Reden über „Defensivwaffen“. Und so macht Melnyk bei jeder Gelegenheit deutlich: Das reicht ihm nicht.

In der Diplomatie, wo gern gelächelt, geraunt und gemahnt wird, ist ein brüllender Botschafter ein Exot. Für Melnyk spricht, dass er gut vernetzt ist, hier wie da. Mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj schreibt er direkt Handynachrichten. Die Deutschen, ihre Politik, Sprache, Gewohnheiten, kennt er sehr gut, seit er 2007 als Generalkonsul nach Hamburg ging – eine Zeit übrigens, als sich kaum jemand für ihn und sein Land interessierte. 2010 kehrte er zurück nach Kiew, machte dort weiter Karriere, kam im Januar 2015 als Botschafter nach Berlin zurück. Auch da wollte noch keiner seine – damals sehr höflich vorgetragenen – Warnungen vor einer russischen Aggression hören, sein Bitten um eine Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine.

Was er damals an Desinteresse erfuhr, hat sich seit Kriegsbeginn aufgestaut bei ihm zu undiplomatischer Entschlossenheit. Die netten Gesten, die wehenden Ukraine-Flaggen vor deutschen Regierungszentralen, die gelb-blau beleuchteten Gebäude, die Wimpel an den Bahnhöfen sieht er alle. Dem „Spiegel“ sagte Melnyk: „Das machen die Deutschen, damit sie sich besser fühlen können.“

CHRISTIAN DEUTSCHLÄNDER

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