Offene Arme in Osteuropa

von Redaktion

München – Immer mehr Menschen bringen sich vor dem Krieg in der Ukraine in Sicherheit – vor allem in Polen. Fast 1,7 Millionen Menschen sind bereits in dem Nachbarland der Ukraine angekommen, wie der polnische Grenzschutz am Sonntag mitteilte. Allein am Samstag hätten 79 800 Menschen die Grenze überschritten, fünf Prozent mehr als am Vortag. Auch in der kleinen Republik Moldau landen viele Flüchtlinge – das Land ruft deshalb nach ausländischer Hilfe. Außenministerin Annalena Baerbock kündigte bei einem Besuch vor Ort an, 2500 Flüchtlinge direkt nach Deutschland holen zu wollen. Schon jetzt erreichen viele Hilfesuchende die Bundesrepublik, am Samstag traf auch in München ein Sonderzug ein (siehe Bayern). Innenministerin Nancy Faeser (SPD) sicherte zu, die Aufnahme in den nächsten Tagen „schnell und unbürokratisch“ umzusetzen.

Doch so kritisch die Lage an den Grenzen auch ist – die Entwicklung ist doch auch ein wenig erstaunlich. Als es in den Jahren ab 2015 darum ging, die Flüchtlinge aus dem arabischen Raum in Europa zu verteilen, hatten sich die meisten Osteuropäer quergestellt. Jetzt nehmen viele die ukrainischen Flüchtlinge mit offenen Armen auf. Länder wie Bulgarien oder die Republik Moldau, die seit Jahren massiv von Abwanderung betroffen sind, sehen in den Flüchtlingen auch willkommene Arbeitskräfte. Viele Ukrainer seien gut qualifiziert und könnten den Mangel an Fachkräften lindern, sagt Sieglinde Rosenberger von der Universität Wien. Sie und andere Experten befürchten aber, dass die Willkommenskultur enden könnte, wenn die Integration nicht gelingt.

Rund 2,5 Millionen Menschen sind nach Angaben der Uno bereits aus der Ukraine geflohen, mehr als die Hälfte von ihnen nach Polen. Zehntausende weitere flohen nach Moldau, Bulgarien, Ungarn und Rumänien.

Moldau, das zwischen der Ukraine und Rumänien liegt und selbst nur 2,6 Millionen Einwohner hat, hat bereits um Hilfe bei die Versorgung der rund 100 000 Kriegsflüchtlinge gebeten. „Wir werden Hilfe brauchen, um mit diesem Zustrom fertig zu werden, und zwar schnell“, sagte Ministerpräsidentin Natalia Gawrilita bei einem Treffen mit US-Außenminister Antony Blinken.

Außenministerin Baerbock sagte der ehemaligen Sowjetrepublik bei einem Besuch in Chisinau am Samstag deshalb umfassende Hilfen zu. In einem ersten Schritt werde Deutschland 2500 Ukrainer direkt aufnehmen, versprach Baerbock bei einem Treffen mit ihrem moldauischen Kollegen Nicu Popescu. Die EU habe als Soforthilfen für Moldau bereits fünf Millionen Euro bereitgestellt, hinzu kämen drei Millionen Euro von Deutschland.

Bulgarien, das ärmste Land der EU, hat etwa 20 000 Menschen aus der Ukraine aufgenommen. Sollte die russische Armee die Stadt Odessa am Schwarzen Meer erobern, dürften es noch erheblich mehr werden. Bulgariens Bevölkerung ist seit der Wende von fast neun Millionen auf 6,5 Millionen geschrumpft. Viele Menschen wanderten aus, um anderswo in Europa zu arbeiten. Nun herrscht ein riesiger Fachkräftemangel – und viele Ukrainer sind „intelligent, gebildet und hochqualifiziert“, wie Ministerpräsident Kiril Petkow sagte.

Der bulgarische Arbeitgeberverband erklärte, seine Mitglieder könnten bis zu 200 000 Ukrainer beschäftigen. Besonders gefragt seien Menschen, die bulgarischer Herkunft sind oder zumindest Bulgarisch sprechen. Vor allem IT-, Textil-, Bau- und Tourismusbranche wollen Zehntausende einstellen.

Auch Ungarn, das sonst für seine restriktive Migrationspolitik bekannt ist, aber ebenfalls mit Arbeitskräftemangel zu kämpfen hat, nimmt die Ukrainer gerne auf. Ministerpräsident Viktor Orbán sagte, es gebe einen Unterschied zwischen „Migranten“ aus Afrika oder dem Nahen Osten und „Flüchtlingen“ aus der Ukraine. „Flüchtlinge können jede Hilfe bekommen“, versprach er.

Ob die Ukrainer in Moldau, Bulgarien und Ungarn bleiben werden, ist aber ungewiss. Viele ziehen in andere europäische Länder weiter. Experten bezweifeln zudem, dass die wirtschaftsschwachen Osteuropäer den Ansturm bewältigen können.

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