Berlin/Kiew – Belagerung, Bombenhagel und kein rettender Ausweg: Die Hilferufe aus der ukrainischen Hafenstadt Mariupol – Heimat von mehr als 400 000 Menschen – werden dramatischer. Mit Besorgnis wird international beobachtet, wie Russland nach seinem stockend begonnenen Angriffskrieg nun die Kämpfe umso brutaler in bewohnte Gebiete trägt. Der Kriegsberichterstatter des russischen Staatssenders RT, Semjon Pegow, bezeichnet die Einschließung als „Mariupoler Kessel“.
Auch im Westen der Ukraine wurden Angriffe am Wochenende verschärft. Ein Ziel war der Militärübungsplatz Jaworiw rund 15 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, wo es Tote und Verletzte gab. Auf der Militärbasis arbeiteten vor dem Krieg Nato-Ausbilder. Laut russischem Verteidigungsministerium seien bei dem Angriff 180 „ausländische Söldner“ getötet und zudem aus dem Ausland gelieferte Waffen zerstört worden. Die ukrainische Regierung sprach von 35 Toten und 134 Verletzten. Der Krieg näherte sich damit am Sonntag der vermeintlich sicheren westukrainische Metropole Lwiw (Lemberg).
„Wie weit werden russische Truppen in der Ukraine gehen“, fragte schon vor Tagen der Chef der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, Kenneth Roth, besorgt. „Das russische Militär hat in der Vergangenheit auf solchen Widerstand mit schweren Verstößen gegen das Kriegsvölkerrecht reagiert, darunter auch vorsätzliches Vorgehen gegen Zivilisten, die Ziel von willkürlichen und unverhältnismäßigen Angriffen waren.“
„Der Plan Putins und seiner Generäle ist nicht aufgegangen. Das heißt, sie müssen jetzt anders agieren, um zum militärischen Erfolg zu gelangen“, sagt der Militärexperte Michael Karl, der sich als Forscher der Bundeswehr-Denkfabrik GIDS mit Russland und Osteuropa befasst. Er verweist auf die russische Kriegsführung in Syrien und sieht Ähnlichkeiten, wie die Auswahl der Ziele. „Mariupol wird wahrscheinlich als Fanal dienen. Wir gehen davon aus, dass diese Stadt eine Art Exempel sein wird, wo mit Bombardements und Raketen- und Artilleriefeuer sowie einer Einkesselung die Zivilbevölkerung terrorisiert und die Stadt vernichtet werden.“ Die erste Zwischenbilanz spricht leider eine deutliche Sprache. Laut Stadtverwaltung starben bereits 2187 Einwohner. Die russischen „Besatzer greifen zynisch und absichtlich Wohngebäude und dicht bevölkerte Gebiete an und zerstören Kinderkrankenhäuser und städtische Einrichtungen“.
Nicht nur auf das syrische Aleppo, auch auf die tschetschenische Hauptstadt Grosny kann man verweisen. Sie galt als eine der am schwersten zerstörten Städte weltweit, war aber auch Schauplatz von heftigsten Verlusten einer russischen Panzertruppe, die unzureichend vorbereitet und mit Wehrpflichtigen eingesetzt wurde.
„Wenn Sie einen Infanteristen fragen: Das Schlimmste, was es für ihn gibt, dann ist es der Orts- und Häuserkampf. Hinter jeder Tür, hinter jeder Mauer lauert der Feind. Versteckte Ladungen und Hinterhalte. Wer da rein will, der muss hervorragend ausgebildet sein“, sagt Karl. Wenn es Plan der Russen sei, im Orts- und Häuserkampf die Großstädte zu erobern, „dann werden sie hohe Verluste erleiden“.
Eine Frage ist, wie lange das sanktionierte Russland den Krieg wirtschaftlich durchhält. Die GIDS-Wissenschaftler gehen davon aus, dass Moskau zumindest das Geld ausgeht. In einer konservativen Gesamtrechnung koste der Krieg Russland etwa 15 Milliarden US-Dollar (knapp 14 Mrd. Euro) pro Tag. Je nach Rechnung habe Moskau ein finanzielles Polster für rund einen Monat. Droht ein Versuch, eine schnelle Entscheidung zu erzwingen?
„Wir erinnern die russischen Behörden daran, dass gezielte Angriffe auf Zivilisten und zivile Objekte sowie das sogenannte Flächenbombardement in Städten und Dörfern nach dem Völkerrecht verboten sind und Kriegsverbrechen darstellen können“, mahnte eine Sprecherin des Hochkommissariats für Menschenrechte.
Der Blick richtet sich auch auf die Lage um Kiew. In der dritten Kriegswoche hat die russische Armee begonnen, sich auf den erreichten Positionen festzusetzen. Die über Tage als Kolonne gestauten Panzer, Waffensysteme und Truppentransporter haben teils die Straßen verlassen und gedeckte Warteposition in Wäldern bezogen. In der Stadt Butscha bei Kiew wurden am Wochenende 67 Zivilisten in einem Massengrab beigesetzt. Auf einem Video ist zu sehen, wie Leichen in schwarzen Plastiksäcken von einem Lastwagen in eine ausgehobene Grube gelegt werden. In Irpin, ebenfalls nahe Kiew, wurde gestern auch ein US-Reporter erschossen, ein anderer wurde verletzt.