München – Olaf Scholz ist durch und durch Hanseat. Gefühlsregungen betrachtet er als Privatsache. Sollte ihn der, ja man muss schon fast sagen: Zorn der Ministerpräsidenten irgendwie tangiert haben, dann lässt es sich der Bundeskanzler gestern nicht anmerken. Nüchtern referiert er nach der Sitzung der Länderchefs in Scholz-deutsch die Sachlage: Der Bund werde am Freitag das neue Infektionsschutzgesetz verabschieden. Wie in den meisten Nachbarländern würden die allermeisten Regelungen auslaufen. Basismaßnahmen – Masken im ÖPNV und Hotspot-Regelungen – bleiben. „Ganz klar, die Länder wünschen sich noch mehr“, sagt Scholz lakonisch. „Trotzdem ist das eine rechtliche Grundlage, auf die in den nächsten Monaten aufgebaut werden kann.“ Corona, sagt Scholz, sei nicht vorbei.
Zumindest letzteres würde Hendrik Wüst unterschreiben. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen muss per Video in die Pressekonferenz zugeschaltet werden. Eine Corona-Infektion hält ihn in einem Hotel in Jerusalem fest. Er wirkt aber ziemlich gesund und durchaus auf Krawall gebürstet. „Die Regelungen sind rechtlich unsicher und praktisch nicht umsetzbar“, schimpft er über das Bundesgesetz. Die Kritik der Länder sei parteiübergreifend und sehr deutlich gewesen. Egal, wie es mit der Pandemie weitergehe: „Der Bund trägt jetzt die Verantwortung dafür.“
Wüst ist als Vorsitzender der Konferenz so etwas wie der Klassensprecher der Länderchefs. Und er ist mit seinem Frust tatsächlich nicht allein. „Wir sind über Stil und Inhalt der neuen Gesetzgebung besorgt und empfinden das als den falschen Weg“, bilanziert auch Markus Söder (CSU) in München. Zwei Jahre gemeinsame Wegstrecke seien vorbei, die Ampel handele nun im Alleingang. „Die Hauptsorge betrifft Schule und Arbeitsplätze. Bei Mutationen sind wir schutzlos, die Hotspot-Regelung ist unpraktikabel.“ Der Bundesgesundheitsminister habe im Gespräch mehrfach vor neuen Varianten gewarnt. Da sei es unverständlich, wie er dem Gesetz zustimmen könne.
Der Ärger ist auch in den Ampel-Parteien erstaunlich groß. Baden-Württembergs Regierungschef Winfried Kretschmann (Grüne) schimpft laut dpa in der Sitzung: „Einen solchen Umgang mit den Ländern hat es noch nie gegeben.“ Eine gute, vertrauensvolle Zusammenarbeit stelle er sich anderes vor. Er verstehe das Vorgehen der Bundesregierung nicht. „Ich halte das nicht für vertretbar“, zitieren Teilnehmer auch Niedersachsens Landeschef Stephan Weil (SPD). Er erwarte nun, dass der Bund die Verantwortung übernehme. „Die Pandemie ist eben nicht vorbei. Das ist kein guter Weg, der hier eingeschlagen wird.“ Das Problem der Länder: Im Bundesrat könnten sie das Gesetz der Regierung zwar ablehnen – aber dann liefen alle Maßnahmen am Samstag aus.
Der neue RKI-Wochenbericht gibt der Ampel übrigens Argumentationshilfe: „Insgesamt ist die Zunahme der schweren Krankheitsverläufe trotz der sehr hohen Infektionszahlen moderat und deutlich schwächer im Verhältnis zur Höhe der Neuinfektionen als während der ersten vier Covid-19-Wellen“, heißt es da. „Auch die Todesfälle bleiben bisher auf einem niedrigeren Niveau.“
Aufhorchen lässt eine Bemerkung von Franziska Giffey (SPD): „Wir haben auch über die Frage der Quarantäneregeln diskutiert“, sagt die Regierende Bürgermeisterin von Berlin. Wie Wüst sei auch sie ohne Symptome positiv gewesen. Vielen gehe es inzwischen ähnlich, sie könnten deshalb nicht arbeiten. „Die Frage, ob diese Quarantäneregeln noch zeitgemäß sind und der Sache dienen, die muss gestellt werden.“