Die Kleinsten und Schwächsten im Visier

von Redaktion

Der Angriff auf ein Theater, in dem Zivilisten Schutz suchten, folgt einem Muster russischer Kriegstaktik

München – Am Tag danach gibt es doch noch eine gute Nachricht aus Mariupol, wenigstens diese eine. Inmitten der umfassenden Zerstörung existiert ein Gebäude, das seinen Zweck noch immer erfüllt. „Der Bunker hat standgehalten“, schreibt der ukrainische Parlamentsabgeordnete Serhij Taruta bei Facebook.

Der Schutzraum, den er meint, befindet sich unter dem Theater der Hafenstadt, das am Mittwoch bombardiert wurde. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch spricht von 500 Zivilisten, die hier Zuflucht gesucht hätten, ukrainische Quellen gehen von über 1000 aus. Als am Abend die ersten Meldungen von einem Angriff eingingen, musste man vom Schlimmsten ausgehen.

Der Außenminister Dmytro Kuleba veröffentlicht gestern zwei Bilder des Theaters: eines aus friedlichen Zeiten, das andere nach dem Luftangriff. Der Vorher-Nachher-Vergleich illustriert das, was Kuleba „ein weiteres entsetzliches Kriegsverbrechen“ nennt. Seit Beginn der Kämpfe wirft die Ukraine Moskau immer wieder vor, keine Rücksicht auf Zivilisten zu nehmen. Das Bombardement von Mittwoch aber hat noch eine andere Dimension.

Satellitenaufnahmen des US-Unternehmens Maxar vom Montag zeigen, dass vor und hinter dem Theater in großen kyrillischen Zeichen das Wort „Kinder“ auf den Asphalt geschrieben wurde. Die Botschaft sollte mögliche Angreifer darauf hinweisen, dass hier die Kleinsten und Schwächsten Zuflucht suchen. Nun sieht es aus, als habe der Hinweis die Kinder nicht nur nicht vor Schaden bewahrt. Womöglich wurde das Theater durch seine Nutzung als Schutzraum sogar erst recht zum Ziel.

US-Präsident Joe Biden nannte Wladimir Putin am Mittwoch einen „Kriegsverbrecher“. Menschenrechtsorganisationen erheben seit Jahren den Vorwurf, Moskau greife systematisch zivile Objekte wie Krankenhäuser und Schulen an. Auch die Weltgesundheitsorganisation stellt fest, solche Attacken seien „Teil der  Kriegsstrategie  und -taktik“. Die perfide Logik besteht darin, die Bevölkerung zu zermürben und ihr zu vermitteln, dass sie nirgends sicher sei. Neben dem Theater soll am Mittwoch in Mariupol auch ein Schwimmbad bombardiert worden sein, in dem Frauen und Kinder sowie Schwangere Schutz suchten.

Vorige Woche gingen zudem Bilder einer zerstörten Geburtsklinik um die Welt. Russlands Außenminister Sergej Lawrow verteidigte den Angriff mit der Begründung, das Gebäude sei längst von ukrainischen Truppen übernommen worden. Ähnlich klingt es nun wieder. Erneut macht Moskau den Gegner verantwortlich. Das Asow-Regiment habe das Theater beschossen, behauptet das Verteidigungsministerium.

Im UN-Sicherheitsrat haben mehrere Staaten eine Dringlichkeitssitzung beantragt. „Russland begeht Kriegsverbrechen und nimmt Zivilisten ins Visier“, erklärte die britische Vertretung. Aber auch die russische Seite brachte eine Resolution ein. Sie enthält ihrerseits die Forderung, der Sicherheitsrat solle Angriffe auf Zivilisten verurteilen. Londons UN-Botschafterin bezeichnete die Initiative angesichts des Geschehens in der Ukraine als „zynischen Schachzug“ und „Beleidigung“. MARC BEYER

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