Krieg der Lügen

von Redaktion

Mord an Flüchtlingshelfer, Aufruf zur Kapitulation: Desinformation gehört zum militärischen Alltag

München – Die Trauer trieft aus jedem Wort. Anfangs wirkt die junge Frau noch gefasst, doch je länger das Video dauert, das seit Sonntag im Netz kursiert, umso mehr ist es um ihre Beherrschung geschehen. Die Stimme kippt, die Augen werden glasig.

Auf den ersten Blick ist es eine schreckliche Geschichte. Daniel, ein 16-Jähriger mit russischen Wurzeln – und, wie in einem Tweet betont wird, „ein lang ersehntes Wunschkind“ – sei von ukrainischen Flüchtlingen, denen er habe helfen wollen, in Euskirchen (NRW) totgeprügelt worden. Sein angebliches Vergehen: Er sprach Russisch.

Das Video verbreitete sich rasant, doch fast ebenso schnell stellte sich heraus, dass es gar keinen Grund für Tränen gab. Noch am Abend erklärte die Bonner Polizei, man habe „keinerlei Informationen“ über einen solchen Vorfall. Man gehe davon aus, „dass es sich um ein absichtliches Fakevideo handelt, das Hass schüren soll“.

Dass die Wahrheit eines der ersten Opfer ist, wenn ein Krieg ausbricht, ist nicht neu. Die Horrormeldung von Euskirchen kommt da wenig überraschend. Seit Jahren nutzt Russland seine Auslandsmedien, aber auch soziale Netzwerke, um Lügen und Desinformation in die Welt zu tragen. Auch vor diesem Hintergrund verbot die EU jüngst die Ausstrahlung der Sender RT und Sputnik.

Das Euskirchen-Video wirkt wie der offensichtliche Versuch, Stimmung gegen Ukrainer zu machen und die Hilfsbereitschaft im Land zu torpedieren. Schwieriger ist die Frage der Urheberschaft. Der Hamburger Kommunikationswissenschaftler Fiete Stegers, der eine Studie zu Desinformation geleitet hat, weiß von Geheimdiensten und Trollfabriken, aber auch von „unorganisierten Sympathisanten“, die mitmischen wollen. Zudem gebe es „immer wieder Leute, die aus Unverständnis, Angst oder persönlicher Betroffenheit Falschinformationen in Umlauf bringen“. Sie wollen nur warnen, womöglich helfen – und befördern die Lüge. Die Frau aus dem Video meldete sich inzwischen, berief sich auf Hörensagen und bat um Entschuldigung. Ihre Behauptung habe sich als unwahr herausgestellt. Andere sollten den Fehler nicht begehen.

Die Polizei prüft dennoch eine Straftat. Schon ihre Reaktion am Sonntag erfolgte schnell, unmissverständlich und auf denselben Kanälen, aber damit ist die Geschichte „nicht aus der Welt“, ahnt Stegers: „Ein bisschen was bleibt hängen.“ Wie ein schleichendes Gift kann die Lüge von Daniel, dem getöteten Wunschkind, auch mit Verspätung wirken. „Es kann sein, dass Schlagwörter sich im Kopf des Publikums festsetzen: Da war doch was!“

Nach dreieinhalb Wochen Krieg gibt es etliche Beispiele für Desinformation. Als der ukrainische Präsident Selenskyj ein Krankenhaus besuchte, hieß es, die ihn begleitende Ärztin sei längst tot, die Bilder müssten gestellt sein. Die Dame war quicklebendig. In einem Video zu einem angeblichen Sabotageakt Kiews waren Schüsse zu hören, die, wie Faktenchecker herausfanden, von einer finnischen Militär-übung stammten. Und auch die Botschaft, in der Selenskyj seine Truppen angeblich zur Kapitulation aufforderte, war am Computer entstanden. Mithilfe der Deepfake-Technologie hatten Hacker aus alten Aufnahmen eine neue Rede konstruiert.

Umgekehrt ist allerdings ebenso Vorsicht geboten, wenn ukrainische Quellen über Absetzbewegungen von Wladimir Putin raunen oder russische Opferzahlen verbreiten. Auch Kiew versuche, „durch Übertreibung oder klassische Propaganda die Wahrnehmung der Welt in ihre Richtung zu drehen“, sagt Stegers. In diesem Krieg geht es immer auch um die Deutungshoheit. MARC BEYER

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