München – In der Spitzenpolitik ist wenig Zufall, nicht mal der Gang zum Klo. Wenn eine Abstimmung ansteht, und plötzlich scharenweise Abgeordnete auf die Toiletten eilen oder sonstwie akut verhindert sind, sollte man das als Alarm-Zeichen verstehen. Thomas Kreuzer, der Chef der CSU-Fraktion im Landtag, dürfte das wissen. Als 2021 seine Wiederwahl anstand, war auf einmal fast jeder Dritte seiner Abgeordneten verschwunden. Am Ende erhielt Kreuzer von 84 möglichen nur 44 Ja-Stimmen.
Ausrutscher? Kleines Versehen? Mitnichten. Schon in der Abstimmung vor elf Monaten zeigte sich: In der CSU wächst der Ärger über den Fraktionschef. Inzwischen wird eine neue Stufe erreicht. Jetzt melden sich Parlamentarier offen zu Wort und reden über Kreuzers Sturz. Es rumort, und zwar gewaltig, und das ohne klar erkennbare, mächtige Rädelsführer.
Als erster geht der Abgeordnete Ernst Weidenbusch aus dem Kreis München aus der Deckung. „Mit Thomas Kreuzer werden wir die Wahl nicht gewinnen“, sagt er dem „Bayerischen Rundfunk“ mit Blick auf Herbst 2023. Er setzt dem Fraktionschef indirekt ein Ultimatum. „Meiner Meinung nach bleiben Thomas Kreuzer noch etwa sechs Wochen Zeit, von sich aus seine Nachfolge zu organisieren, sonst wird es eine Dynamik in der Fraktion geben, die er nicht mehr aufhalten kann.“
Nun ist Weidenbusch keiner der Wortführer, ist auch mit hohen Nebeneinnahmen unter den Kollegen nicht unumstritten – in diesem Punkt spricht er aber aus, was Kollegen von geringerem Mut nur leise murmeln. Kreuzer ist angezählt, wirkt gesundheitlich angegriffen. Unter seiner Führung verlor die einstige „Herzkammer“ der CSU immer weiter an Einfluss und Gestaltungskraft: nie ein Veto, kaum Ideen. Die Fraktion schlitterte 2021 durchs Masken-Desaster ihres Ex-Mitglieds Alfred Sauter, die Januar-Klausur 2022 sackte im Coronachaos in sich zusammen.
Für Kreuzer spricht: Viel an dem Unmut richtet sich nicht gegen ihn, sondern gegen Ministerpräsident Markus Söder und dessen Führungsstil. Wobei Söder selbst den Kemptener Kreuzer sehr zu schätzen weiß. Verlässlich, auf den Punkt genau hellwach und bei Reden im Landtag kantig konservativ sei der 62-jährige Jurist, sagen Söder-Vertraute in der Fraktion. Bei der jüngsten Kabinettsumbildung wagte sich Söder jedenfalls nicht an Kreuzer ran – als Teil eines Personalpakets der Fraktion einen neuen Chef vorzuschlagen, war ihm zu riskant. Oder, eine andere Deutung: zu unbequem. Kreuzer ist, anders als einst Alois Glück für Edmund Stoiber, kein Gegenspieler in der Landespolitik, und das seit 2013.
Noch hat sich die Fraktion nicht sortiert, am Dienstag und Mittwoch gibt es wieder Treffen. Für Kreuzer ist kein schlagkräftiger und wortgewaltiger Ersatz in Sicht. Die Ex-Kabinettsmitglieder Josef Zellmeier, Winfried Bausback oder Kerstin Schreyer werden genannt. Letzteres würde Söder grob missfallen. Um einen eigenen Vertrauten zu installieren, müsste er allerdings wohl schon wieder sein Kabinett umbauen. Und auch da wäre wieder mal nicht gewiss, wie viele Abgeordnete mitstimmen. Mit einer Gegenkandidatur wäre zu rechnen.
CHRISTIAN DEUTSCHLÄNDER