ALEXANDER WEBER
Momente existenzieller Gefahr haben – neben dem Schrecklichen – auch eine gute Kehrseite: Sie schärfen den Blick für das Wesentliche. Putins Überfall auf die Ukraine hat sich zu einer solchen Augenöffner-Erfahrung entwickelt – vor allem in Europa und Deutschland.
Dem Fleiß der Menschen und der Leistung großer Staatsmänner nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir es zu verdanken, dass Frieden in Europa über mehr als zwei Generationen hinweg die Grundlage unseres Lebens in Freiheit und Wohlstand war. Eines war er nie: selbstverständlich. Umso schmerzlicher für viele das jetzige Erwachen. Das jahrzehntelange vergebliche Pochen der Amerikaner auf Einhaltung der Nato-Verpflichtungen (vor allem an die Adresse Deutschlands) und Putins Kriegsverbrechen sind uns hoffentlich eine ewige Lehre: Demokratien sind wunderbar, aber ohne Wehrhaftigkeit nicht überlebensfähig. Wenn Löwe und Lamm sich scheinbar verstehen, ist das gut. Besser ist es trotzdem, der Löwe zu sein.
Doch Militär ist nicht alles. Es ist ein Glücksfall, dass an der Spitze der USA in dieser Krisenlage Joe Biden steht. Der erfahrene Mann hat Fehler gemacht. Aber es ist Bidens kluger Revitalisierung der Diplomatie zu verdanken, dass es „den Westen“ so überhaupt noch gibt. Jenes transatlantische Bündnis, das sein Vorgänger im Weißen Haus und andere in Europa so despektierlich behandelten. Und das jetzt – stark wie lange nicht – Europas Rettungsanker gegen die Gelüste Putins ist. Nicht nur sicherheitspolitisch. Die zusätzlichen Lieferungen von Flüssiggas aus den USA sind ein Grund dafür, dass der Entzug von russischer Gas-Abhängigkeit schneller vorankommt – vor allem in Deutschland. Der Berliner Politik kann man nur wünschen, dass sie die beiden aktuellen Lehren nicht mehr vergisst: 1. Nie mehr Abhängigkeit von einem Lieferanten. 2. Bevor man aus Energieträgern aussteigt, muss man in neue nicht nur eingestiegen sein, sondern sie zum vollwertigen Ersatz entwickelt haben.
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