Wir wissen noch nicht, wie der von Machtgier eines brutalen Diktators getriebene Überfall auf die viel kleinere Ukraine enden wird. Aber fest steht, wir haben es mit einer Zeitenwende zu tun, einer neuen Teilung der Welt zwischen den autoritären Ländern, die sich auf pure Macht stützen, und den Demokratien, in denen die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen Staatsgrundlage sind.
Zeitlos dazu ist die Sprache der Lüge des Starken gegenüber den Schwachen. Schon die antike Fabel vom Gespräch zwischen Wolf und Lamm soll zeigen, wozu der Mensch auf diesem Gebiet in der Lage ist:
Der Wolf trinkt am Oberlauf eines Baches. Dem darunter trinkenden Lamm wirft er vor, sein Wasser trüb gemacht zu haben. Das ängstliche Lamm kann das widerlegen mit dem Hinweis, dass es der Wolf ist, der oben am Wasserlauf steht. „Vor sechs Monaten hast du schlecht von mir geredet“, sagt dann der Wolf, worauf das Lamm antwortet: „Da war ich ja noch gar nicht geboren.“
„Beim Herkules“, sagt am Ende der Wolf, „dein Vater hat schlecht über mich geredet.“ Und damit packt und zerreißt er das Lamm in ungerechtem Mord.
Es sind die Mächtigen, die mit erlogenen Gründen Unschuldige vernichten. So hört man heute aus Moskau, dass Russland in der Ukraine „Nazis“ bekämpfen muss und dazu den Befehl über Funk: „Tötet sie alle, verdammt.“
Dazu kann einem das ganz reale Schicksal der Insel Melos während des Peloponnesischen Krieges einfallen. Die Athener wollten 416 v. Chr. die Melier zum Eintritt in ihren attischen Seebund zwingen. Diese wehrten sich dagegen, so steht es im sogenannten Melierdialog des Historikers Thukydides unter Berufung auf „Recht, Menschlichkeit und Götterwillen“. Die Athener wiesen alle diese Gegengründe mit immer neuen Lügen zurück. Da sich die Melier nicht fügen wollten, eröffneten die athenischen Feldherren die Feindseligkeiten. Sie belagerten die Insel mit gnadenloser Härte. Am Ende – so heißt es im Original – „ergaben sich die Melier, da auch noch Verrat hinzukam, bedingungslos den Athenern. Diese töteten alle erwachsenen Männer, die sie ergreifen konnten, die Kinder und Frauen verkauften sie in die Sklaverei!“ Wenn wir diesen Text früher in der Schule zu lesen hatten, dann stand dahinter der Bildungsanspruch, uns das Grundschema imperialistischen Vorgehens fassbar zu machen. Über alle Jahrhunderte hinweg bis heute beherrscht es die Weltpolitik. Und von Zeit zu Zeit gewinnt es durch den Wahnsinn machtsüchtiger Autokraten bitterste Realität. Die gegen die Melier so grausam vorgehenden Athener aber haben bald darauf ihre ganze Armee in Sizilien verloren: „Als die Nachricht nach Athen kam, konnten sie es lange nicht glauben. Als sie dann aber zur Gewissheit kamen, zürnten sie allen, die damals ihnen die Hoffnung auf die Eroberung Siziliens genährt hatten. Alles Elend brach von allen Seiten auf sie herein.“
Schreiben Sie an:
Ippen@ovb.net