Kramatorsk – Der Angriff erfolgte gegen 10.30 Uhr, zu einem Zeitpunkt, als sich viele, viele Flüchtlinge am Bahnhof des ostukrainischen Kramatorsk versammelt hatten: Mindestens 50 Menschen wurden bei dem Raketenangriff am Freitag getötet, darunter fünf Kinder. 98 Verletzte kamen in umliegende Krankenhäuser. Etwa 4000 Menschen hätten sich am Bahnhof aufgehalten, sagte Bürgermeister Olexander Hontscharenko. Kramatorsk wird von ukrainischen Truppen kontrolliert, gilt aber als Ziel der Russen.
Stunden nach dem Raketeneinschlag herrscht vor dem hübschen Bahnhof mit seinem rot-weißen Backsteingiebel Totenstille. Ein Blick auf den Vorplatz lässt das Ausmaß der Tragödie erahnen: große Blutlachen, Glasscherben, verstreutes Gepäck und ein in Blut getränkter Plüschhase bedecken den Boden. Unter einer Wartebank lugt ein abgerissener Fuß in einem Turnschuh hervor. Auch die Überreste einer großen Rakete mit der russischen Aufschrift „Für unsere Kinder“ liegt auf dem Platz.
„Ich war am Bahnhof. Ich habe eine zweifache Explosion gehört und bin zu einer Wand gerannt, um mich zu schützen“, berichtet eine Frau, die unter den verlassenen Habseligkeiten auf dem Boden nach ihrem Pass sucht. „Ich sah blutüberströmte Menschen in den Bahnhof kommen, und überall lagen Leichen auf dem Boden. Ich weiß nicht, ob sie nur verletzt oder tot waren.“
Zwischen den Trümmern läuft ein Polizist umher und sammelt blutverschmierte Handys ein, von denen eines immer wieder klingelt. Die teils zerfetzten Leichen werden in einer Ecke des Vorplatzes vor den kleinen Läden abgelegt, in denen Reisende normalerweise Snacks kaufen.
Der Bahnhof von Kramatorsk im Donbass war seit Tagen von Tausenden für die Flucht Richtung Westen genutzt worden. Die ukrainischen Behörden wurden nicht müde, die Menschen eindringlich zum Verlassen der Ostukraine aufzufordern.
Seit Russland angekündigt hat, sich militärisch auf den Donbass zu konzentrieren, leben die Bewohner in Angst vor einer Großoffensive. Vor dem Krieg wohnten mehr als 150 000 Menschen in Kramatorsk. Die Stadt wird nun in die Zange genommen von der russischen Armee, die vor Kurzem Isjum im Nordwesten eingenommen hat.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gibt Russland die Schuld. „Da ihnen die Kraft und der Mut fehlen, sich auf dem Schlachtfeld gegen uns zu behaupten, zerstören sie zynisch die Zivilbevölkerung“, schreibt er bei Instagram. „Dies ist ein Übel, das keine Grenzen kennt. Und wenn es nicht bestraft wird, wird es nie aufhören.“ Auch Bundeskanzler Olaf Scholz und US-Präsident Joe Biden verurteilen den Angriff. Biden schrieb am Freitag bei Twitter von einer „weiteren von Russland verübte schreckliche Gräueltat“.
Der Kreml weist indes jede Verantwortung für den Angriff auf den Bahnhof in Kramatorsk zurück. Und die moskautreuen Separatisten geben sogar ukrainischen Einheiten die Schuld am Tod der Flüchtlinge. afp/dpa