„Wir stehen an eurer Seite“

von Redaktion

VON MICHAEL FISCHER UND MICHEL WINDE

Butscha – Reisen in Kriegsgebiete kennt Ursula von der Leyen aus ihrer Zeit als Verteidigungsministerin. Aber was sie im Kiewer Vorort Butscha sieht, ist neu für sie. Am Freitagnachmittag steht sie fassungslos vor 20 Leichen, jede in einen schwarzen Plastiksack verpackt. Die Körper von 20 Einwohnern Butschas waren noch kurz zuvor in einem Massengrab verscharrt.

„Jetzt kann die ganze Welt das wahre Gesicht Russlands sehen“, sagt der uniformierte Mann, der die EU-Kommissionspräsidentin über das Gelände führt. Sie findet kaum Worte. Es werde die Wunden nicht heilen, sagt sie, aber: „Die ganze Welt trägt Trauer, nach allem, was hier passiert ist.“ In einer Kirche zündet sie mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell und dem slowakischen Ministerpräsidenten Eduard Heger Kerzen für die Opfer an – mit versteinertem Gesicht steht sie da.

Von der Leyen ist die erste westliche Spitzenpolitikerin, die Butscha nach dem Massaker besucht, das erst vor einer Woche bekannt geworden ist. Die Erwartungen sind entsprechend hoch. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba sagte am Vortag: „Entweder Sie helfen uns jetzt, und ich spreche von Tagen, nicht von Wochen, oder Ihre Hilfe wird zu spät kommen.“

Von der Leyen demonstriert große Solidarität mit der Ukraine. Der Besuch in Butscha solle ein „deutliches Zeichen“ an das tapfere ukrainische Volk sein, dass man an seiner Seite stehe und es wo immer möglich unterstütze. Mit Blick auf Butscha spricht sie vom „grausamen Gesicht von Putins Armee“ und „Kaltherzigkeit“. Dann zählt sie auf, womit die EU der Ukraine hilft: mit Waffen, Sanktionen gegen Russland und Hilfe für die Flüchtlinge.

Begonnen hat von der Leyens Reise in der polnischen Kleinstadt Przemysl, nur 13 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Dort kommen immer noch jeden Tag tausende Flüchtlinge. Von ihnen sieht von der Leyen nichts, sie wird direkt auf den Bahnsteig geleitet, auf dem ihr Sonderzug abfährt. Mitten in der Nacht geht es los. Die Fenster werden abgedunkelt, über die Route wird geschwiegen. Nach einer guten halben Stunde erreicht der Zug die Grenze zwischen Polen und der Ukraine. Dann geht es mehr als zehn Stunden durchs Kriegsgebiet.

In Kiew trifft die Kommissionschefin den ukrainischen Präsidenten. Der Termin verläuft herzlich, auch wenn Wolodymyr Selenskyj erneut härtere Strafmaßnahmen fordert. Für das gerade beschlossene fünfte EU-Sanktionspaket sei er zwar dankbar, es reiche aber nicht aus. Ohne zusätzliche Härte werde „Russland niemanden und nichts verstehen“. Immerhin: Der slowakische Regierungschef Heger verkündet überraschend, dass sein Land der Ukraine sein S-300-Flugabwehrsystem schenkt.

Und dann ist da noch die große Frage nach dem EU-Beitritt des Landes. Der Krieg war nur wenige Tage alt, da schickte Selenskyj schon den Antrag nach Brüssel. Von der Leyen will den Ukrainern Hoffnung machen, kann aber kaum konkrete Zusagen machen. Dafür setzt sie ein Zeichen: Von der LEyen überreicht Selenskyj einen Fragebogen, der die Grundlage für dei Beitrittsgespräche sein soll. „Wir stehen an eurer Seite, wenn ihr von Europa träumt“, sagt sie.

Für diesen Samstag hat sich der nächste EU-Spitzenpolitiker in Kiew angekündigt. Österreichs Kanzler Karl Nehammer hat sich am Freitagabend auf den Weg gemacht. Er will Selenskyj und Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko treffen.

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