Borodjanka – Mit vor Müdigkeit und vom Weinen geröteten Augen beobachtet Antonina regungslos, wie der Bagger die Trümmer eines Gebäudes in Borodjanka durchwühlt. Am Abend des 1. März hatte die russische Luftwaffe eine Bombe über dem dreiteiligen WoZOhnblock in der ukrainischen Kleinstadt abgeworfen. Seitdem hat sie nichts mehr von ihrem 43 Jahre alten Sohn Jurij gehört, der im dritten Stock des Hauses lebte. „Vielleicht hat er es geschafft rauszukommen“, sagt Antonina. Vielleicht liege er verletzt unter den Trümmern. „Ich kann es nicht sagen, ich weiß es nicht.“, Die 65-Jährige bricht in Tränen aus. Das Warten und die Ungewissheit sind unerträglich.
Vor dem Krieg lebten in der Kleinstadt nordwestlich von Kiew fast 13 000 Menschen. Doch durch die russischen Bombenangriffe wurde Borodjanka weitgehend zerstört. Nichts ist mehr dort, wo es sein sollte. Das Ausmaß der Verwüstung ist kaum zu ertragen. Manche Häuser sind einfach nicht mehr da.
Ende März konnten die ukrainischen Truppen Borodjanka und die umgebende Region von den Russen zurückerobern. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnete die Lage in der Kleinstadt nach dem Abzug der russischen Truppen als verheerend. Sie sei noch „viel schrecklicher“ als in Butscha, wo zahlreiche Leichen von erschossenen Zivilisten gefunden wurden.
Wie viele Menschen in Borodjanka starben, ist unklar. Allein aus den Trümmern von zwei Wohnblöcken seien 27 Leichen geborgen worden, erklärte Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa kürzlich. Die Bergungsarbeiten haben erst jetzt begonnen, zunächst mussten Sprengstoffentschärfungsteams die Gegend sichern.
Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus der Nordukraine werden in immer mehr Orten Massengräber mit Zivilisten gefunden. Wenediktowa nannte am Sonntag im Interview mit dem britischen Sender „Sky News“ die Zahl von 1222 geborgenen Toten „allein in der Region Kiew“. Westlich der ukrainischen Hauptstadt meldeten die Behörden den Fund Dutzender Leichen. „Nahe der Tankstelle von Busowa haben wir heute noch tote Zivilisten in einer Grube gefunden“, sagte der Gemeindevorsteher Taras Didytsch in der Nacht im ukrainischen Fernsehen. Auf der Trasse von Kiew nach Schytomyr seien zudem nahe der Hauptstadt Leichen bei beschossenen Autos gefunden worden.
„Die von den russischen Streitkräften begangenen Gräueltaten in Butscha, Borodjanka und anderen Städten und Dörfern, die jüngst durch die ukrainische Armee befreit wurden, sowie der brutale Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk sind Teil der verwerflichen Zerstörungstaktiken des Kremls“, sagte der EU-Außenbeauftrage Josep Borrell. Durch den russischen Angriffskrieg sind offiziellen Angaben zufolge bisher mehr als 300 ukrainische Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen beschädigt worden. „21 Krankenhäuser wurden komplett zerstört“, sagte Gesundheitsminister Viktor Ljaschko im ukrainischen Fernsehen.
Die russische Armee hatte sich in den vergangenen Tagen im Norden der Ukraine insbesondere aus der Region um Kiew zurückgezogen. Nach eigenen Angaben will sich Moskau auf den östlichen Donbass konzentrieren, der bereits seit 2014 teilweise von prorussischen Rebellen kontrolliert wird. „Die Ukraine ist bereit für die großen Schlachten“, sagte der Berater von Präsident Selenskyj, Mychailo Podoljak. In Erwartung einer massiven Offensive verstärkten die ukrainischen Behörden ihre Evakuierungsbemühungen.
Beim Angriff auf den Bahnhof der Stadt Kramatorsk am Freitag waren 52 Zivilisten, darunter fünf Kinder, getötet worden. „Das ist ein Kriegsverbrechen“, sagte die Generalstaatsanwältin Wenediktowa. Es sei eine russische Rakete gewesen, die mehr als 50 Menschen getötet habe, die mit ihren Kindern auf ihre Evakuierung gewartet hätten. „Das waren Frauen, das waren Kinder, und sie wollten einfach nur ihr Leben retten.“ Man habe Beweise dafür, dass es sich um einen russischen Angriff gehandelt habe. Mit Bussen und Kleintransportern wurden Dutzende Überlebende des Angriffs aus Kramatorsk herausgebracht. Mehrere Züge sollten die Menschen nun von der Nachbarstadt Slowjansk gen Westen bringen. mm/afp/dpa