München – Der Streit um ein Gasembargo setzt die deutsche Politik immer mehr unter Druck. Die Regierung befürchtet im Falle eines Boykotts katastrophale Folgen für die Wirtschaft – Kritiker werfen Deutschland hingegen Doppelmoral vor. Paul Krugman, einer der weltweit renommiertesten Wirtschaftswissenschaftler, zog in der „New York Times“ Parallelen zur Finanzkrise: Deutschland habe vor einem Jahrzehnt „immense Opfer“ von anderen Ländern wie Griechenland verlangt – und drücke sich nun davor, selbst Opfer zu bringen.
Deutschland habe damals den südeuropäischen EU-Partnern die „Schuld an ihrer eigenen Misere“ gegeben, so der Nobelpreisträger. Die Merkel-Regierung sei bereit gewesen, „Ländern, denen es eine unverantwortliche Kreditaufnahme vorwarf, eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe aufzuerlegen“, sagt Krugman. Daraufhin sei die griechische Wirtschaft um 21 Prozent eingebrochen, die Arbeitslosigkeit auf 27 Prozent gestiegen. Nun weigere sich Deutschland, „sich selbst weitaus geringere Kosten aufzuerlegen“ – obwohl die deutsche Energiepolitik in der Vergangenheit „unbestreitbar unverantwortlich“ gewesen sei.
Laut Krugman sei Deutschland durch seine freundschaftliche Russlandpolitik zu einem der wichtigsten Wegbereiter Putins geworden. „Das ist nicht nur beschämend“, so der US-Ökonom, „sondern angesichts der jüngsten deutschen Geschichte auch unglaublich heuchlerisch.“ Man mache sich zum „Komplizen eines Massenmordes“.
Auch der französische Ökonom Thomas Philippon wirft der deutschen Politik vor, mit zweierlei Maß zu messen. „Vor elf Jahren erlebte Griechenland eine Staatsschuldenkrise“, twitterte er. Die Ursachen seien „eine unverantwortliche Finanzpolitik und Pech“ gewesen. Heute befinde sich Deutschland in einer geopolitischen Krise – wegen einer „unverantwortlicher Energiepolitik und Pech“. Im Falle Griechenlands sei „eine globale Finanzkrise, die durch den US-Immobilienmarkt ausgelöst wurde“, das Pech gewesen. „Deutschlands Pech waren die unberechenbaren Entscheidungen eines eingefleischten Tyrannen.“
Philippon kritisiert, deutsche Politiker hätten ihre „griechischen Kollegen gerne daran erinnert, dass Pech keine Entschuldigung für schlechte Politik ist“. Griechische Politiker hätten sich auf die Glaubwürdigkeit des Euros verlassen, „der eine billige und scheinbar unbegrenzte Kreditaufnahme ermöglichte – eine Zeit lang“. Deutschland habe dasselbe mit seiner Energiepolitik getan, findet der Ökonom. „Es war eine Wette, dass das Gas weiter fließen würde“, sagt Philippon. „Deutschland ist von Gaszuflüssen abhängig, so wie Griechenland von Finanzzuflüssen abhängig war.“
Nun müssten andere Länder den Preis für Deutschlands fehlerhafte Energiepolitik zahlen – denn die Abhängigkeit vom russischen Gas beschränke „die Handlungsfähigkeit der europäischen Politik“, meint Philippon. „Aber es ist nie zu spät, das Richtige zu tun. Die Verhängung von Sanktionen mag die Gräueltaten kurzfristig nicht verhindern, aber Nichtstun wird sie mit Sicherheit verschlimmern.“ Ein Gasembargo sei zwar schmerzhaft, aber nicht das Ende der Wirtschaft.
Nicht nur die Ukraine, auch Polen und die Baltenstaaten fordern schon lange ein Öl- und Gasembargo gegen Russland. Die EU-Kommission schließt das nicht aus – am Montag haben die EU-Außenminister in Luxemburg erneut über einen Importstopp beraten. kab