„Die Ukraine muss gewinnen“

von Redaktion

Der ehemalige Staatsminister Michael Roth (SPD), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, war in dieser Woche in der Ukraine. Er reiste mit den Vorsitzenden des Europa- und des Verteidigungsausschusses, Anton Hofreiter (Grüne) und Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP).

Herr Roth, welchen Eindruck haben Sie aus der Ukraine mitgenommen?

Mir ist ein Satz von einer ukrainischen Abgeordneten ganz besonders in Erinnerung geblieben: Die beste humanitäre Hilfe, die Deutschland momentan leisten könne, wären aus ihrer Sicht weitere Waffenlieferungen. Das hört sich erst mal sehr verstörend an. Aber nur aus einer Position der Stärke und Wehrhaftigkeit heraus kann die Ukraine diesen furchtbaren Krieg als freies und souveränes Land überleben.

Noch vor Wochen galt für Deutschland der Grundsatz „Keine Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete“. Gibt es eine neue Schwelle für solche Lieferungen?

Durch den furchtbaren russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist eine völlig neue Lage entstanden, in der diese Zurückhaltung nicht mehr zu rechtfertigen war. Ich will für uns alle hoffen, dass uns ein weiterer derart furchtbarer Krieg in Europa erspart bleibt. Aber auch das ist eine reale Gefahr. Sollte Russland diesen Krieg gegen die Ukraine gewinnen, dann drohen neue militärische Konflikte in Moldau, in Georgien und vermutlich auch auf dem westlichen Balkan. Etwa in Bosnien-Herzegowina, wo Russland das brandgefährliche Spiel des Separatismus spielt, wenn ich an die Republika Srpska denke. Deswegen muss die Ukraine diesen furchtbaren Krieg gewinnen.

Russland hat immer wieder darauf hingewiesen, dass es die Ost-Erweiterung der Nato als Bedrohung betrachtet. Welche Fehler muss sich der Westen ankreiden lassen?

Es war ein Fehler, dass wir aus vermeintlich übergeordnetem Interesse, nämlich Frieden und Stabilität mit Russland zu erreichen, bereit waren, die Souveränität und Freiheit anderer osteuropäischer Staaten wie der Ukraine zu relativieren. Das werfe ich auch mir vor, gleichwohl ich stets einen sehr kritischen Blick auf die Herrschaft Putins hatte. Es hat zu keinem Zeitpunkt eine militärische Bedrohung durch die Nato gegeben. Diese Putin’sche Propaganda hat auch hier im Westen Wirkung entfaltet.

Schaffen denn Waffen wirklich Frieden?

Ja, das ist für einige von uns eine Zumutung, weil wir unsere eigenen vermeintlichen Gewissheiten infrage stellen müssen. Aber Frieden kann eben nur dann gelingen, wenn auch die Unfriedlichen, die nicht Friedfertigen dazu bereit sind. Wir erleben gerade, dass Russland zum Allerschlimmsten bereit ist. In einer solchen Welt rettet eine einseitige Abrüstung kein einziges Menschenleben. Das ist die bittere Wahrheit, der wir uns alle stellen müssen.

Dabei sehen wir gerade jetzt, wie dringlich Abrüstung, vor allem nukleare Abrüstung auf die Tagesordnung gehört. Wann gibt es dafür wieder Chancen?

Wir müssen immer wieder um Abrüstung ringen. Diesem Ziel fühle auch ich mich weiter verpflichtet. Aber es scheint vielen noch gar nicht ins Bewusstsein geraten zu sein: Ein Land wie die Ukraine, das 1994 mit der Garantie staatlicher Souveränität auf eigene Atomwaffen verzichtet hat, musste jetzt erkennen, dass die damals gegebenen Sicherheitsgarantien von Russland und anderen Staaten nichts wert waren. Das hat massive Auswirkungen auf die derzeitigen Verhandlungen mit dem Iran oder Nordkorea, die sich auch mit Atomwaffen bewaffnen wollen. Wie sollen diese Staaten uns noch ernst nehmen, wenn sie wissen: Sie verzichten auf Atomwaffen, bekommen aber im Gegenzug nichts dafür? Das heißt: Das, was wir derzeit in der Ukraine erleben, hat auch weitreichende Konsequenzen für unser jahrzehntelanges Bemühen, endlich eine Welt ohne Atomwaffen zu schaffen.

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