Linkspartei am Abgrund

von Redaktion

Co-Chefin Susanne Hennig-Wellsow tritt überraschend zurück und hinterlässt einen Scherbenhaufen

Berlin – Susanne Hennig-Wellsow hat eine längere Erklärung verfasst. Sie stelle ihr Amt als Parteivorsitzende „mit sofortiger Wirkung“ zur Verfügung, schreibt sie auf ihrer Webseite. Und wer die Erklärung der Linken-Co-Chefin genau liest, erkennt, was sich in den vergangenen Wochen und Monaten alles aufgestaut haben muss. Wie viel Frust und Enttäuschung darüber, dass es für ihre und mit ihrer Partei nicht so gelaufen ist, wie es sich die Thüringerin bei ihrem Amtsantritt vor etwas mehr als einem Jahr noch erhofft hatte.

„Wir haben zu wenig von dem geliefert, was wir versprochen haben“, resümiert Hennig-Wellsow. „Ein wirklicher Neuanfang ist ausgeblieben. Eine Entschuldigung ist fällig, eine Entschuldigung bei unseren Wählerinnen und Wählern, deren Hoffnungen und Erwartungen wir enttäuscht haben“, schreibt die 44-Jährige, die zugleich aber auch private Gründe für ihren Rückzug anführt. Ihre private Lebenssituation mit einem achtjährigen Sohn erlaube es ihr nicht, in der gegenwärtigen Lage ausreichend für ihre Partei da zu sein. Ein Abgang, der die ohnehin krisengebeutelte Linke völlig überraschend trifft.

Hennig-Wellsow führte die Linke gemeinsam mit Janine Wissler seit Ende Februar 2021. Das Duo folgt damals auf Katja Kipping und Bernd Riexinger, die nach neun Jahren auf eine weitere Amtszeit als Parteivorsitzende verzichtet hatten. Zuvor war Hennig-Wellsow 17 Jahre lang Abgeordnete im Thüringer Landtag, seit 2014 dort auch Fraktionsvorsitzende.

Hennig-Wellsow und Wissler sollten der Linken neuen Auftrieb geben, eine neue Ära der Stabilität einläuten – ohne innerparteiliche Dauerkämpfe. Viel Zeit hatten die beiden nicht, um den neuen Spirit auch in politische Erfolge umzumünzen. Spätestens am Abend der Bundestagswahl im September 2021 wird klar: Die Linke steckt in einer der tiefsten Krisen ihrer Geschichte. Sie scheitert an der Fünf-Prozent-Hürde und schafft es nur noch über Direktmandate in den Bundestag. Ein tiefer Schlag – der Spuren hinterlässt.

Zu weiteren Tiefpunkten kommt das Wahl-Debakel im Saarland, wo die Linke aus dem Landtag katapultiert wurde. In einem Land, das einst als Linken-Hochburg galt und indem die Linke seit Längerem eher mit Selbstzerfleischung auffiel als mit politischem Programm. Zur Krönung war im Saarland wenige Tage vor der Wahl Oskar Lafontaine zurückgetreten – einst Mitbegründer der Linkspartei im Bund.

Die Liste der Krisenmomente ist lang. Als der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine vor fast zwei Monaten ausbricht, kann sich die Partei auf keine gemeinsame Linie im Umgang mit Russland einigen. Die Linken-Politiker Sahra Wagenknecht und Gregor Gysi liefern sich auf offener Bühne einen Streit über den richtigen Kurs, über Waffenlieferungen und Sanktionen.

Wieder entsteht der Eindruck: Die Partei weiß selbst nicht mehr, wofür sie steht. Und mittendrin: zwei Vorsitzende, die teils ratlos wirken und es offenkundig nicht schaffen, ihre Partei aus dem Abgrund zu ziehen. „Wir haben Vertrauen enttäuscht“, bilanziert die scheidende Vorsitzende. Während Co-Chefin Wissler schweigt. Stundenlang kein Kommentar zum Rückzug ihrer Partnerin. Ein Sprecher der Partei sagt schließlich, dass selbst Wissler nichts vom Rücktritt gewusst habe und ebenso überrascht worden sei. Auch sonst heißt es aus Parteikreisen, man habe über Twitter vom Rücktritt erfahren.

In der Außenwahrnehmung gerät auch Wissler zunehmend unter Druck. Ganz aktuell muss sich die ehemalige Fraktionsvorsitzende im hessischen Landtag gegen den Vorwurf wehren, von sexuellen Übergriffen innerhalb des hessischen Landesverbands gewusst und nicht ausreichend zur Aufklärung beigetragen zu haben. Eigentlich wollte sich der Bundesvorstand gestern deshalb in einer digitalen Krisensitzung zusammensetzen. Dann gab es doch mehr zu besprechen. Hennig-Wellsow war nicht mehr dabei FATIMA ABBAS

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