Manfred Weber (CSU) ist Vorsitzender der konservativen EVP-Fraktion im EU-Parlament. Nächsten Monat soll er auch Parteichef der europäischen Konservativen werden – einen Gegenkandidaten gibt es nicht. Wir sprachen mit dem 49-Jährigen über die Konsequenzen des Ukraine-Kriegs für die EU und die Wahl in Frankreich.
Herr Weber, der russische Überfall auf die Ukraine liegt nun zwei Monate zurück. Haben Sie noch eine letzte Resthoffnung auf ein baldiges Ende?
Die Faktenlage sieht leider so aus, dass wir uns auf weitere heftige Kämpfe und einen längerfristigen Konflikt einstellen müssen.
Es wird gerade viel über Waffen gesprochen. Die Sanktionen geraten fast in Vergessenheit. Zeigen sie die erhoffte Wirkung?
Russland steht vor einer beispiellosen Rezession. Die Menschen dort merken, dass sie ganze Produktbereiche nicht mehr kaufen können, weil sich westliche Firmen zurückgezogen haben. Die Sanktionen kommen also an. Es war sehr wichtig, dass es uns gelungen ist, diese Pakete zu beschließen. Aber wahr ist auch: Russland lernt damit zu leben, deshalb muss jetzt die nächste Phase folgen.
Die Energiefrage.
Bei Kohle haben wir eine gemeinsame Linie gefunden. Als Nächstes sollten wir uns vom russischen Öl verabschieden.
Und ein Gasembargo?
Diese Frage ist schwieriger, weil wir stärkere Abhängigkeiten haben, vor allem in Südosteuropa. Wir sollten uns vorerst nicht an den schwierigsten Fragen verkämpfen, sondern schnell handeln, wo es möglich ist – also beim Öl. Leider hat die Ampel schon bei der Kohle länger gebraucht, um auf die gemeinsame Linie der Verbündeten einzuschwenken. Ein Symbol, dass die Bundesregierung mehr zaudert als agiert. Das muss aufhören. Europa braucht Führung.
Derzeit scheint gar niemand zu führen.
Es ist offensichtlich, dass Putin einen schwachen Moment Europas abgewartet hat. Am Sonntag wählt Frankreich. Deutschland hat eine neue Regierung, die meist Getriebene der Entwicklung ist. Das muss ein Wachrütteln für Europa sein. Es geht nicht nur um kleines Krisenmanagement. Wir müssen groß denken.
Dann denken Sie doch mal groß – was ist zu tun?
Wir erleben einen Kiew-Moment der EU. Seit diesem Krieg rückt Europa zusammen. Wir haben heute in Lissabon, in Dublin, in Athen oder in München die gleiche Gefühlslage. Finnland, vielleicht auch Schweden, will plötzlich in die Nato. Auch die europäischen Institutionen müssen jetzt Führung übernehmen und Vorschläge vorlegen, wie wir die EU institutionell stärken. Die Grundidee war ja: Nie wieder Krieg auf dem Kontinent.
Was heißt das konkret?
Europa muss sich verteidigen können. Derzeit sind wir ohne die USA fast nackt in einer Welt der Stürme. Wir brauchen eine fundamentale Neuausrichtung der Verteidigungspolitik. In allen Ländern wird jetzt investiert. Das ist gut, aber gleichzeitig verschwenden wir Milliarden Euro, weil jeder überwiegend national plant.
Die Erkenntnis ist nicht neu. Sehen Sie neue Einsicht der Regierungen?
In den persönlichen Gesprächen mit Staats- und Regierungschefs höre ich da viel Nachdenklichkeit. Nehmen Sie die Cyberabwehr: Ein einzelner Staat ist heute nicht in der Lage, sich eigenständig gegen russische Angriffe zu wehren. Aber es gibt bislang keine politische Führung, die diese Nachdenklichkeit in ein gemeinsames Konzept gießt.
Braucht es eine europäische Armee?
Das wäre wieder eine Grundsatzdebatte, die nur langfristig zum Ziel führen kann. Wir sollten es pragmatischer angehen. Zwei Schritte, die jetzt ganz akut notwendig sind: Wir brauchen neben der Nato-Stärkung und der beschlossenen EU-Eingreiftruppe einen europäischen Raketenschutzschirm, nationale Lösungen allein ergeben da keinen Sinn. Und wir brauchen eine europäische Cyberabwehr-Brigade, die in der Lage ist, die kritische Infrastruktur zu verteidigen. Bis zum Sommer brauchen wir da Entscheidungen.
Spannend ist auch, was sich in den einzelnen Ländern tut. Polen und Ungarn galten immer als Sorgenkinder der EU. Plötzlich rückt Warschau wieder sehr nahe an uns heran.
Polen zeigt gerade, dass es im Herzen Europas ist. Die Hilfsbereitschaft ist enorm und nötigt mir größten Respekt ab. Wir sollten in diesem Moment mal kurz innehalten, weil auch wir Fehler gemacht haben. Manche sind sehr belehrend gegenüber Mittelost-Europa aufgetreten. Und gerade in der Russland-Politik waren einige in Westeuropa leider oft falsch gelegen. Allerdings gilt weiter: Werte der EU, wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sind nicht verhandelbar.
Sehen Sie da in Warschau ein neues Denken?
In Polen gibt es Bewegung. Einige Vorschläge und Gespräche gehen in die richtige Richtung. Aber die eingefrorenen Gelder kann es erst geben, wenn gehandelt wird.
Am Sonntag wählt Frankreich. Wie groß ist in Brüssel die Sorge vor einem Sieg von Marine Le Pen?
Die Umfragen sind besorgniserregend. Eine Wahl von Le Pen wäre eine Vollbremsung für die Europäische Integration. Leider trägt auch Emmanuel Macron daran eine Schuld . . .
Inwiefern?
Sein politisches Konzept beruht auf der Einteilung zwischen Progressiven und Populisten – und nur er vertritt die Progressiven. Das ist inhaltlich Unsinn. Damit hat er die Diskussion in der politischen Mitte zerstört. Die Populisten sind die einzige Alternative zu ihm. Unsere deutsche politische Kultur mit den starken Parteien der Mitte mag da etwas langweiliger wirken – aber es festigt die Demokratie.
Interview: Mike Schier