Washington – So etwas hat es in der Geschichte des Supreme Court der USA noch nicht gegeben. Bereits vor der für Juni erwarteten Urteilsverkündung zu „Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization“ dringen aus dem Gericht Einzelheiten der Stimmungslage an die Presse. Genauer gesagt an das Online-Portal „Politico“, dem nach eigener Darstellung ein rund 100 Seiten umfassender Entwurf der Urteilsbegründung in die Hände gefallen ist. 1992 hatte das oberste Gericht „Roe v. Wade“ im Fall „Planned Parenthood v. Casey“ noch im Wesentlichen bestätigt.
Daraus geht hervor, dass eine konservative Mehrheit am obersten Gericht, das 1973 gefällte Grundsatzurteil „Roe v. Wade“, kippen will. Laut „Politico“ haben sich dem Entwurf des Kollegen Samuel Alito die Richter Clarence Thomas, Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett angeschlossen. Letztere drei waren vom vormaligen US-Präsidenten Donald Trump berufen worden. Der von George W. Bush vorgeschlagene Vorsitzende Richter John Roberts soll sich der Mehrheitsmeinung nicht angeschlossen haben.
Nach Gepflogenheit des Gerichts fällt einem der Richter der Mehrheit die Aufgabe zu, die Begründung zu formulieren. In diesem Fall wurde Alito beauftragt: „Wir sind überzeugt, dass Roe und Casey aufgehoben werden müssen“, schreibt der 72-Jährige in dem Dokument. Die Abtreibungsfrage sollte „zurück an die gewählten Volksvertreter“ verwiesen werden.
Das vor knapp 50 Jahren gefällte Grundsatzurteil sei „von Anfang an ungeheuerlich falsch“, so der von Bush berufene Richter des Supreme Court. Es habe „ein Recht erfunden, das nirgends in der Verfassung erwähnt wird“.
Nach bisher gültigen Grundsätzen von „Roe v. Wade“ wäre ein vor dem obersten Gericht angefochtenes Gesetz aus Mississippi verfassungswidrig, das Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche verbietet. Gemäß der aktuellen US-Rechtsprechung sind Abtreibungen weitgehend Privatangelegenheit. Erst im späteren Verlauf der Schwangerschaft, etwa ab der 23. Woche, nimmt der Schutz ungeborenen Lebens sukzessive zu. Dann können die Bundesstaaten in einem vom Supreme Court abgesteckten Rahmen Verbote erlassen.
Sollte der Supreme Court tatsächlich so entscheiden, hätte das zur Folge, dass Abtreibungsregeln in erster Linie in die Kompetenz der 50 Bundesstaaten fielen. Republikanisch geführte Bundesstaaten haben bereits juristische Mechanismen beschlossen, die ihre Abtreibungsgesetze unmittelbar in Kraft treten ließen. Von Florida bis Texas gälten dann für Millionen Frauen wesentlich strengere Vorgaben und Fristen.
Zuletzt verabschiedete Oklahoma einen Entwurf, der Schwangerschaftsabbrüche fast ausnahmslos verbietet. Er sieht vor, dass Abtreibung nur dann zulässig ist, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist. Ansonsten bleibt sie grundsätzlich eine Straftat, die mit bis zu zehn Jahren Gefängnis und 100 000 US-Dollar Geldstrafe geahndet werden kann. Demokratische Staaten wollen dagegen künftig auch Frauen aus Republikaner-Staaten legalen Zugang zur Abtreibung garantieren. BERND TENHAGE