München – Der 9. Mai ist der Tag der großen Militärparade. Seit Jahren lässt Wladimir Putin seine Kriegsmaschinen in Moskau auffahren, um an den Sieg über Hitler-Deutschland zu erinnern – und die eigene militärische Stärke zu feiern. Es lag auf der Hand, dass Putin diesen Tag auserkoren hatte, um einen Erfolg in der Ukraine zu präsentieren. Nun aber läuft es dort für seine Truppen nicht so wie erhofft – und Russlands Außenminister Sergej Lawrow bestreitet bereits jegliche Zielsetzung in diese Richtung. „Unser Militär wird seine Handlungen nicht künstlich an irgendeinem Datum ausrichten.“ Angesichts dieser Lage gibt es immer mehr Stimmen, die vermuten, Putin werde am 9. Mai keinen Sieg verkünden, sondern stattdessen eine große – oder auch teilweise – Mobilmachung. Auch in westlichen Regierungen wird für denkbar erachtet, dass Russland der Ukraine am Montag offiziell den Krieg erklärt.
„Es kann sein, dass am 9. Mai der große patriotische Krieg offen erklärt wird, nach 77 Jahren würde man damit ansagen, jetzt den letzten Weltkrieg zu Ende zu bringen“, sagte der Moskauer Soziologe Greg Yudin der „Zeit“. Das würde eine große Mobilmachung bedeuten. Yudin, der bereits den Einmarsch in der Ukraine vorausgesagt hatte, hält es aber für wahrscheinlicher, „dass man das Ende von Mariupol, das man dem Erdboden gleichgemacht hat, als Sieg präsentiert“. Damit würde die Botschaft einhergehen: „Entspannt euch, wir siegen weiter. So oder so wird eine Siegesbotschaft verkündet.“
Der Politikwissenschaftler Thomas Jäger hält in einem Beitrag für den „Focus“ hingegen drei Szenarien für möglich: „Erstens, dass am 9. Mai keine weiterreichenden Entscheidungen verkündet werden; zweitens, dass die Befreiung der bestehenden und Gründung neuer ,Volksrepubliken‘ als Ergebnis der Militäroperation bekannt gegeben wird; drittens, dass Russland mit der Mobilmachung den Krieg eskaliert.“ Im zweiten Fall würde sich die Frage stellen, ob dies von der Ukraine zum Ausgangspunkt einer Waffenstillstands- oder sonstigen Vereinbarung gewählt werden könnte, so Jäger. Im dritten Fall würden die Kampfhandlungen hingegen absehbar deutlich zunehmen. „Russland hätte eine große Zahl an Reservisten einzusetzen, die die erheblichen Verluste an Gefallenen und Verwundeten ausgleichen könnten“, schreibt Jäger – auch wenn deren Kampfkraft unklar sei. Dass Putin gar einen Krieg gegen die Nato führen möchte, bezweifelt Jäger allerdings. Das Bündnis dürfte Putin zu stark erscheinen – „selbst wenn man die russische Brille zur Beurteilung der Lage aufsetzt“.
Doch auch wenn es nicht zur großen Mobilmachung kommt, dürfe sich der Westen keine Illusionen über die „herrschende russische Großmachtsfantasie“ machen, sagt Yudin. „In der Ideologie des russischen Nationalismus bevölkern Nazis die gesamte Außenwelt.“ Ein Russe könne hingegen kein Nazi sein. „Es gehört zu den Spezifika des neuen völkischen russischen Faschismus, dass er in seinen Reinheitsfantasien alles ausmerzen will, was er als Nazi auffasst. Das ist alles Nichtrussische, also besonders das sogenannte Abendland.“ Der Gegner sei dabei der gesamte Westen – „die USA, die Franzosen, die Briten“. Und die Drohung, die heute vom 9. Mai ausgehe, sei: „noch einmal Berlin zu erobern“. Der Westen werde von den meisten Russen hingegen „als derart weich wahrgenommen, dass man ohnehin nicht davon ausgeht, dass er irgendetwas ernst meint, außer seinen Wohlstand zu erhalten“.
Hoffnungen auf eine gegen Putin gerichtete Bewegung aus dem Inneren dämpft der Professor an der Moskauer School of Social and Economic Sciences. „Im ganzen Land ist das Gefühl allgegenwärtig, dass man ohnehin nichts politisch verändern kann und ausschließlich das Privatleben ein wenig dem eigenen Einfluss unterliegt“, sagt er. „Die Leute haben jedes Vertrauen verloren. Selbst in den Familien: Wenn Mütter ihre Kinder auf der Straße anschreien, dann auch, weil sie nicht mal den eigenen Kindern über den Weg trauen.“ Man glaube rein gar nichts mehr. „Die Grundannahme lautet, dass alles, was Menschen sagen, Lüge ist.“