München/Berlin – Anfang April zogen in Berlin wieder mehrere hundert Demonstranten durch die Stadtteile Kreuzberg und Neukölln. Es wurden judenfeindliche Parolen gerufen – ein Jahr zuvor gab es sogar größere Ausschreitungen. Doch diejenigen, die bei diesen Protesten Sätze wie „Juden ins Meer“ riefen und Journalisten als „Drecksjude“ beschimpften, waren dem äußeren Eindruck nach nicht etwa Neonazis, sondern großteils arabischstämmig – und mutmaßlich Muslime.
Dass Antisemitismus in Deutschland schon lange kein politisch rein rechtsgelagertes Problem mehr ist, belegt auch eine neue Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag des American Jewish Committee (AJC). Stattdessen sind Vorbehalte gegen Juden sowohl unter AfD-Anhängern als auch unter Muslimen in Deutschland stärker verbreitet als in der Gesamtbevölkerung.
Insgesamt denken demnach 34 Prozent, dass Juden ihren Status als Opfer des NS-Völkermordes zu ihrem Vorteil ausnutzten – unter den AfD-Wählern sagen das hingegen 48, unter Muslimen sogar 54 Prozent.
Das Gedenken an den Holocaust bezeichnen insgesamt 48 Prozent der Befragten als „unbedingt notwendig“, 43 Prozent als „wichtig, aber nicht unbedingt notwendig“. Unter Muslimen liegen die Werte bei 39 beziehungsweise 40 Prozent, bei AfD-Anhängern bei 24 beziehungsweise 52 Prozent.
18 Prozent der Gesamtbevölkerung denken, dass Juden zu viel Macht in den Medien haben – unter den AfD-Wählern sind 34 Prozent dieser Auffassung, unter den Muslimen sind es 53 Prozent.
AJC-Berlin-Direktor Remko Leemhuis hält es für wenig überraschend, dass unter den Wählern der AfD antisemitische Stereotype von allen im Bundestag vertretenen Parteien am stärksten verbreitet sind. Schließlich sei „Antisemitismus doch ein Kernelement der Partei“. Zur Verbreitung von Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland habe es bisher hingegen kaum empirische Forschung gegeben. „Die vorliegenden Zahlen bestätigen bedauerlicherweise, was wir bereits seit langer Zeit befürchtet hatten: Antisemitische Einstellungen sind hier sehr weit verbreitet“, sagt Leemhuis.
Nicht zuletzt die anti-israelischen Demonstrationen der letzten Wochen hätten dies erneut verdeutlicht. Zudem hätten in einer vorhergehenden Studie befragte Jüdinnen und Juden in Deutschland auf die Frage, welchem Spektrum sie den schlimmsten antisemitischen Vorfall, der ihnen in den letzten fünf Jahren widerfahren ist, zuordnen, zu 41 Prozent geantwortet: „Someone with a Muslim extremist view“ – jemand mit einer muslimisch-extremistischen Ansicht. Unter den zwölf befragten Ländern sei dies der höchste Wert in dieser Kategorie gewesen.
Am Dienstag wurden auch neue Daten des Bundeskriminalamtes zur politisch motivierten Kriminalität vorgestellt. Demnach stieg die Zahl antisemitischer Straftaten um 29 Prozent auf einen Höchststand von 3027 Delikten. Davon seien 84 Prozent von Rechtsextremisten ausgegangen. Die neue AJC-Umfrage erinnert aber auch daran, dass es jenseits von erfassten Delikten ein großes Dunkelfeld und zudem Vorfälle gebe, die keine Straftat darstellten.
Der Studie nach halten insgesamt sechs von zehn Befragten Antisemitismus in Deutschland für weit verbreitet. Knapp zwei Drittel sehen eine Zunahme in den vergangenen zehn Jahren. Unter den befragten Muslimen sahen 53 Prozent eine weite Verbreitung und etwa jeder zweite eine Zunahme. hor/kna