Kiew – Tiefe Falten sind auf der Stirn von Annalena Baerbock zu sehen, als sie sich in Butscha den Ort des Grauens zeigen lässt. In dem Vorort der ukrainischen Hauptstadt Kiew wurden nach dem Abzug der russischen Truppen mehr als 400 Leichen gefunden – teils mit auf den Rücken gefesselten Händen. Und nun steht die deutsche Außenministerin hier, zündet in der orthodoxen Kirche eine rote Kerze an und will ihre Erschütterung nicht verbergen. „Wir sind es diesen Opfern schuldig, dass wir hier nicht nur gedenken, sondern dass wir die Täter zur Verantwortung bringen und ziehen“, sagt Baerbock an der Seite der ukrainischen Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa.
Es ist fast ein idyllisches Bild in Butscha, wo vor wenigen Wochen mutmaßlich russische Täter gewütet haben. An einer Allee in der Nähe des Gotteshauses blühen Kirschbäume. Rasen wird gemäht, Autos sind unterwegs. Es wirkt wie Alltag. Gegen elf Uhr wird Baerbock von einem Mitarbeiter der deutschen Botschaft begrüßt, der sein Haus in dem Ort hat. In der Kirche lässt sich die Ministerin Fotos zeigen, die deutlich machen, was hier geschehen ist. Die Bilder von den Leichen auf den Straßen gingen um die Welt.
Umringt von Sicherheitskräften und mit Schutzweste über dem Mantel gibt Baerbock dann einen Einblick in ihre Gefühlswelt. Das tut sie öfters, um den Menschen zuhause nahezubringen, dass Außenpolitik nichts Abstraktes, Nüchternes ist. Die Kirche, in der sie gerade gewesen sei, stehe ja eigentlich für Hoffnung, Zukunft, sagt sie. Zugleich sei die Kirche aber „ein Ort, wo die schlimmsten Verbrechen, die man sich nur vorstellen kann, nicht nur sichtbar geworden sind, sondern passiert sind“. Baerbock wirkt erschüttert. „Diese Opfer könnten wir sein.“
Auf Twitter schreibt die Ministerin später, Butscha sei zum Symbol geworden für unvorstellbare Verbrechen, Folter, Vergewaltigung, Mord. „Die Unvorstellbarkeit lässt diesen Ort weit weg erscheinen. Und dann steht man hier und begreift: Butscha ist eine ganz normale, friedliche Vorstadt. Es hätte jeden treffen können.“ Butscha sei ein Vorort von Kiew, genauso wie Potsdam von Berlin. Die Ministerin und Mutter zweier kleiner Mädchen lebt in Potsdam. Sie fügt an: „Es hätte auch meine Familie, meine Nachbarn sein können. Die Willkür macht fassungslos.“
Deutschland werde die Aufklärung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterstützen und gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft Beweise sammeln, versichert Baerbock an der Seite der Generalstaatsanwältin Wenediktowa. „Das ist das Versprechen, was wir hier in Butscha geben können und geben müssen.“ 116 Tote habe man in den beiden inzwischen exhumierten Massengräbern gefunden, berichtet die Staatsanwältin.
Von Butscha fährt die Ministerin nach Irpin, einen stark zerstörten Vorort von Kiew. In der Nacht zum Dienstag ist Baerbock mit dem niederländischen Außenminister im Zug nach Kiew gekommen, unter großer Geheimhaltung. Mehrfach war sie in der Ukraine, nachdem sie im Dezember Ministerin geworden ist, zuletzt im Februar. Gut zwei Wochen vor Kriegsbeginn.
Lange hat es seither mit dem erneuten Besuch eines deutschen Regierungsmitglieds gedauert – viele kritisieren, zu lange. Nun also ist die 41-Jährige die erste Ampel-Vertreterin, die zum Solidaritätsbesuch kommt. Und nicht Kanzler Olaf Scholz von der SPD, obwohl Präsident Wolodymyr Selenskyj ihn erst kürzlich eingeladen hatte. Schon oft hat der Kanzler seiner Außenministerin den Vortritt bei wichtigen Auslandsreisen gelassen. Manche rätseln, warum.
Baerbock trifft in Kiew ihren Amtskollegen Dmytro Kuleba, die beiden umarmen sich innig; auch mit Präsident Selenskyj spricht sie. Ob Scholz selbst Reisepläne hat, ist zunächst weiterhin offen. Selenskyj und Kuleba dürften damit kaum zufrieden sein – bei aller Anerkennung für die Reise von Baerbock.