München/Mariupol – Mit teils erhobenen Armen stehen Männer in Militärkleidung vor ihren Gegnern. Andere liegen verletzt auf Tragen, haben Verbände an Armen und Beinen, werden in spezielle Busse zum Abtransport gebracht. Im Hintergrund ist ein Industriegelände zu sehen. Viele der Männer haben lange Bärte, ihre Blicke wirken leer und erschöpft, kaum einer spricht. Das Video – veröffentlicht vom russischen Verteidigungsministerium – soll einige der ukrainischen Kämpfer zeigen, die sich nach wochenlanger Belagerung in der Hafenstadt Mariupol ergeben haben.
In Moskau ist am Dienstag von 265 Kämpfern, darunter 51 Schwerverletzten, die Rede, die sich bis vor kurzem im Stahlwerk Azovstal verschanzt und nun ihre Waffen niedergelegt haben sollen. Kiew spricht von 264 Soldaten, die in die von russischen Truppen besetzte Ortschaft Oleniwka gebracht worden sein sollen. Was nun mit ihnen passiert, bleibt zunächst unklar. Kiew setzt auf einen Austausch gegen russische Kriegsgefangene, Moskau bestätigt das bislang nicht. Auch was mit den im Werk verbliebenen Soldaten passiert, bleibt abzuwarten. In dem komplexen Tunnelsystem hatte sich die letzte Bastion ukrainischer Kämpfer verschanzt. Mit dem letzten ukrainischen Soldaten, der das Werk verlässt, dürfte Mariupol als endgültig von Russland eingenommen gelten.
Der Generalstab der ukrainischen Armee erklärte in der Nacht zum Dienstag, die Soldaten haben „ihren Kampfauftrag erfüllt“. Die Kommandeure hätten den Befehl bekommen, „das Leben“ der verbliebenen Soldaten zu „retten“. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj unterstrich bei einer Videoansprache: „Die Ukraine braucht ihre ukrainischen Helden lebend.“
Deswegen setzt die Ukraine auf einen Gefangenenaustausch. Wie die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin Hanna Maljar erklärte, soll es zu einem späteren Zeitpunkt zu einem solchen Austausch kommen. Kiew und Moskau haben bereits mehrere Gefangenenaustausche vorgenommen. Doch Russland scheint sich querzustellen. Der Chef des russischen Parlaments, Wjatscheslaw Wolodin, hat sich gegen einen generellen Austausch ausgesprochen. „Nazi-Verbrecher unterliegen keinem Austausch. Das sind Kriegsverbrecher, und wir müssen alles dafür tun, sie vor Gericht zu bringen“, sagte er.
Derweil setzte Russland seine Angriffe im ganzen Land fort. In der westukrainischen Stadt Lwiw soll militärische Infrastruktur getroffen worden sein. Auch aus Odessa und Mykolajiw im Süden des Landes meldete die ukrainische Armee Beschuss. Sie beschuldigte Russland im Zentrum von Mykolajiw wahllos Streumunition eingesetzt zu haben.
Als Zeichen der deutschen Unterstützung telefonierte Kanzler Olaf Scholz (SPD) gestern erneut mit Präsident Selenskyj. Die Politiker tauschten sich dabei über die aktuelle militärische und humanitäre Lage in der Ukraine aus. Die beiden waren sich einig, dass eine diplomatische Verhandlungslösung „ein umgehendes Ende der Kampfhandlungen seitens Russland erfordere“, erklärte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Die Ukraine und Russland haben die Verhandlungen zur Beendigung des Krieges gestern vorerst ausgesetzt. Die Ukraine wendet sich dabei vor allem gegen einen Diktatfrieden vonseiten Russlands. hud/dpa