Kiew/München – Noch will Wolodymyr Selenskyj nicht aussprechen, dass Mariupol ganz an die russische Armee gefallen ist. Doch in der Nacht zum Sonntag beteuerte er bereits, man habe alles versucht, um die südukrainische Hafenstadt zu befreien. Es klingt, als sei in dem Kampf, den ukrainische Kämpfer zuletzt noch vom eingekesselten Asow-Stahlwerk aus führten, militärisch die Entscheidung gefallen.
Die russische Seite hatte am Freitag gemeldet, die letzten dieser Kämpfer seien in Gefangenschaft gegangen. In einem Video werden sie wie Trophäen vorgeführt. Die Aufnahmen von den Männern und Frauen kursieren auch im ukrainischen Internet. In Kommentaren überwiegt Freude über ihre Rettung die Trauer über die Niederlage. Für die Ukraine ist es der bisher schwerste Verlust in dem Krieg, den Russlands Präsident Wladimir Putin am 24. Februar begann. Die Stadt mit einst fast 500 000 Einwohnern galt seit Wochen als Symbol des ukrainischen Widerstandes gegen Russland.
Nun sollen rund 2500 Verteidiger von Mariupol in Gefangenschaft sein, darunter fast 80 Frauen. Putin hatte zugesichert, dass sie am Leben bleiben, wenn sie sich ergeben. Selenskyj setzt deshalb auf einen Gefangenenaustausch. Aber russische Politiker fordern Prozesse mit Urteilen bis hin zur Todesstrafe.
Die russische Armee konzentriert ihre Kräfte offenbar auf die Region Donbass. Im Kreml spricht man davon, die 2014 von Separatisten ausgerufenen und am 21. Februar 2022 von Moskau anerkannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk zu „befreien“. Strategisch geht es um die Absicherung der Landverbindung vo der Ostukraine zur Krim. Mariupol hat auch Bedeutung für den Zugang der Region zum Meer.
Die Lage im Donbass war zuletzt immer wieder Thema der Videoansprachen von Selenskyj. Am Samstag nannte er die Lage dort „äußerst schwierig“. Die russische Armee versuche, die Städte Slowjansk und Sewerodonezk anzugreifen. „Die Streitkräfte der Ukraine halten diese Offensive zurück.“ Jeder Tag, an dem „unsere Verteidiger“ Pläne Russlands durchkreuzten, sei ein konkreter Beitrag auf dem Weg zum Sieg. Man müsse weiter kämpfen.
Dies ist auch eine Absage an Vorstöße zu Waffenstillstandsverhandlungen. Die hatten zuletzt Italiens Ministerpräsident Mario Draghi und US-Verteidigungsminister Lloyd Austin gefordert. Selenskyjs Chef-Unterhändler Michajlo Podoljak sagte laut Deutschlandfunk, Zugeständnisse an Moskau würden nach hinten losgehen. Russland werde nach jeglicher Pause härter zuschlagen. Man werde keine Vereinbarungen akzeptieren, die Gebietsabtretungen umfassen.
Polens Präsident Andrzej Duda bestärkte Kiew darin. Er hielt am Sonntag eine Rede im ukrainischen Parlament und sagte im Rahmen des Besuchs, die internationale Gemeinschaft müsse den vollständigen Rückzug russischer Truppen fordern. Er sagte zudem, Polen werde „alles in seiner Macht stehende tun“, um der Ukraine zu helfen, Mitglied der EU zu werden“.
Aus Moskau kamen am Sonntag gemischte Signale. Man sei bereit für weitere Verhandlungen, hieß es. Gleichzeitig wurde die Inbetriebnahme von 50 neuen Interkontinentalraketen angekündigt. Die ist zwar seit Jahren geplant. Der erste echte Test im April und die aktuelle Ankündigung werden in der derzeitigen Lage aber auch als Drohung an den Westen gedeutet. STEFAN REICH