Moskaus Propaganda-Endlosschleife

von Redaktion

VON HANNAH WAGNER

Moskau – Wer als kremltreuer Russe in diesen Tagen das Staatsfernsehen einschaltet, für den ist die Welt in Ordnung. Am Sonntag zum Beispiel zeigt Rossija-1 in den 11-Uhr-Nachrichten die Kapitulation der letzten ukrainischen Kämpfer aus dem Stahlwerk in Mariupol. Zu sehen sind Männer mit langen Bärten, blassen Gesichtern und Hakenkreuz-Tattoos. Sie hätten die Stadt völlig vermint, behauptet die Nachrichtensprecherin. Zur Beruhigung fügt sie aber gleich hinzu, damit sei es nun vorbei. „Azovstal ist komplett von den ukrainischen Nationalisten gesäubert.“

Die angebliche Befreiung der Ukraine von „Faschisten“ und „Nazis“ ist Moskaus wichtigste Rechtfertigung für den Angriffskrieg gegen das Nachbarland, der nun schon mehr als drei Monate dauert. Dass sich in Mariupol auch Kämpfer des tatsächlich von Rechtsextremen dominierten Asow-Regiments ergaben, ist für Russlands Staatsfernsehen geradezu ein Geschenk. Dass es sich dabei nur um einen Bruchteil der Kämpfer handelt, wird von den kremltreuen Medien nicht erwähnt. Dass für Tod und Leid von Zivilisten oft russische und prorussische Militärs verantwortlich sind, auch nicht.

Umfragen zufolge unterstützt die Mehrheit der rund 146 Millionen Russen den Krieg. All diese Menschen als hilflose Opfer von Staatspropaganda zu betrachten, wäre zu einfach. Kritische russischsprachige Nachrichtenkanäle gibt es weiterhin – auch wenn sie oft nur noch über Umwege wie alternative Internetverbindungen zu erreichen sind. Zugleich ist das Internet gerade in der Provinz aber oft schlecht oder gar nicht existent. Wer auf Kritik nicht zugreifen kann oder will, sieht nur das, was der Kreml will.

An diesem Nachmittag ist das etwa Folgendes: Das Gebiet Cherson – wo die Bevölkerung immer wieder gegen die russischen Besatzer protestierte – sei nun „gesäubert“. Ein Reporter zeigt, wie prorussische Kämpfer an Waffen trainiert werden. „Die Jungs sind Prachtkerle“, sagt ein Ausbilder.

Zwischen den Nachrichten gibt es eine Musiksendung. Es wird gesungen, getanzt, gelacht. Der Krieg – oder vielmehr die „militärische Spezial-Operation“, wie das hier nur heißt – scheint weit weg. Kritik am Vorgehen der Streitkräfte ist tabu. Wer es trotzdem wagt, riskiert nach einem neuen Gesetz bis zu 15 Jahre Haft. Umso mehr Aufsehen erregen Aktionen wie die der bis dahin linientreuen Redakteurin Marina Owsjannikowa, die während der Hauptnachrichten des ersten Kanals mit einem Anti-Kriegs-Plakat ins Bild sprang.

An diesem Tag bleiben solche Zwischenfälle aus. Im abendlichen Wochenrückblick werden Bilder aus dem umkämpften Osten der Ukraine gezeigt. „Wir erfüllen alle Aufgaben – bis zum Sieg“, hören die Zuschauer von einem Soldaten im Gebiet Luhansk. Dann sehen sie Aufnahmen von russischen Nationalgardisten, die in eroberten Gebieten Sportkurse für Kinder anbieten, von geretteten Haustieren und von Menschen, die Russland-Fähnchen schwenken.

Zum Tagesabschluss steht die Talkshow von Wladimir Solowjow an – Kritiker bezeichnen ihn als einen der wichtigsten Propagandisten des Kremls. Wieder geht es um Mariupol. Solowjow äfft zuerst den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach, dann macht er sich über die letzten Verteidiger der Stadt am Asowschen Meer lustig. Nicht mal den Heldentod habe Kremlchef Wladimir Putin ihnen gegönnt, spottet er. „Sie haben sich in Gefangenschaft begeben. Einfach die Pfötchen nach oben gestreckt und sich ergeben.“

Unter Solowjows acht Gästen ist an diesem Abend auch die Chefredakteurin des ebenfalls staatlichen Senders RT, Margarita Simonjan. Sie nennt die Ukrainer „Feiglinge“ ohne Moral. „Schaut, wie sie sich ergeben haben – in grünen Unterhöschen“, ruft sie zu Aufnahmen fast nackter Männer, die sich auf offener Straße vor ihren Gegnern ausziehen und durchsuchen lassen müssen. „Sie haben sich ergeben, weil sie Nazis sind“, sagt Simonjan zufrieden. „Und Nazis ergeben sich immer.“

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