Putins verfahrene Lage

von Redaktion

Warum ein Sieg Russlands über die Ukraine immer weniger möglich erscheint

Berlin – Drei Monate nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine hat Präsident Wladimir Putin sein Land in eine Situation militärischer und wirtschaftlicher Schwäche manövriert. Das Schwarze Meer ist für die russische Flotte praktisch blockiert, die Ostsee wohl bald schon ein Binnenmeer fast ganz umgeben von Nato-Staaten, die dann bis in den höchsten Norden an Russland grenzen. Und wird das machtbewusste China einem nach Alternativen suchenden und sanktionierten Russland noch Augenhöhe zugestehen?

Schon jetzt seien die Verluste Russlands in der Ukraine so hoch wie die der Sowjets in Afghanistan, schätzte der britische Geheimdienst am Montag – und geht davon aus, dass das bald auch die öffentliche Meinung in Russland beeinflussen werde. Dazu kommen die Folgen für Betriebe und Staatseinnahmen. Der Verkauf von fossiler Energie garantiert keine stabilen Einnahmen mehr, auch wenn Öl und Gas auf den Weltmärkten zu Höchstpreisen gehandelt werden. Dazu kommt, dass der Krieg für das westliche Bündnis wie eine Frischzellenbehandlung wirkt.

Moskau ist hingegen weiter von seinen Kriegszielen entfernt als noch zu Beginn der sogenannten „militärischen Spezialoperation“. Neben der Eroberung der Gebiete Donezk und Luhansk wurde auch offen mit dem Anschluss weiterer, vorwiegend russischsprachiger Regionen der Ukraine geliebäugelt sowie die „Entnazifizierung“ und „Entmilitarisierung“ der Ukraine deklariert. Diese Worte konnten nichts anderes als den geplanten Sturz der Regierung in Kiew bedeuten. Folgerichtig zielte der russische Angriff von Anfang an auch direkt auf die ukrainische Hauptstadt. Mit dem erbitterten Widerstand der Ukrainer hatte in Moskau allerdings niemand gerechnet. Alexej Leonkow, Militärexperte des kremlnahen Journals „Arsenal des Vaterlands“, räumte Kiew am Tag des Überfalls zwei bis drei Tage bis zur Kapitulation ein. Alexander Lukaschenko, Machthaber in Belarus, der den russischen Truppen bereitwillig sein Land als Aufmarschgebiet für den Angriff auf die Ukraine überließ, sprach vor dem Krieg im russischen Staatsfernsehen von drei bis vier Tagen, die so eine Auseinandersetzung im Fall des Falles dauern würde.

Nach dem Scheitern der Offensive vor Kiew ist Ernüchterung eingekehrt. Selbst in Moskau gibt es trotz allem nach außen hin demonstrierten Zweckoptimismus erste Eingeständnisse von Unzulänglichkeiten. Russlands ehemaliger Innenminister Raschid Nurgalijew, inzwischen Vizesekretär des nationalen Sicherheitsrats, sprach von „Schwierigkeiten“, Tschetscheniens Machthaber Ramsan Kadyrow gar von „Fehlern“, die am Anfang der Operation gemacht worden seien.

Für die Ukrainer ist das Stoppen der russischen Offensive ein strategischer Sieg. Kiew mobilisiert seit Monaten neue Truppen, während Moskau mit dem Schritt zögert, auch weil eine Mobilmachung dem Standpunkt widerspricht, dass es sich um eine begrenzte „Spezialoperation“ und nicht um einen vollwertigen Krieg handelt. Sicher scheint aber, dass Russland mit dem derzeitigen Kräfteeinsatz nicht in der Lage ist, noch wesentlich voranzukommen.

Genau wird in den Nato-Staaten der Verlauf der Kämpfe beobachtet. Für detaillierte Lehren sei es zu früh, sagte der deutsche Heeresinspekteur, Generalleutnant Alfons Mais, der Deutschen Presse-Agentur. „Ich befürchte, dass wir kein schnelles, klares Ende dieses Konfliktes vor uns haben, sondern dass es in ein zähes Ringen, vielleicht in einen ,frozen conflict’ mündet“, sagte Mais. CARSTEN HOFFMANN

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