Kiew/Berlin – Von einer extrem schweren Lage im ostukrainischen Kriegsgebiet Donbass spricht Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew. Während die Hauptstadt am Sonntag bei Sonne ihren 1540. Geburtstag feiert und Bürgermeister Vitali Klitschko freudig in einem Videoclip gratuliert, geht die blutige Schlacht um die Städte in den Regionen Luhansk und Donezk weiter. Besonders heftig toben die Gefechte um Sjewjerodonezk, das seit der Machtübernahme durch prorussische Separatisten 2014 in Luhansk als neue Gebietshauptstadt dient. Sie steht allem Anschein nach kurz vor dem Fall.
Noch halte der Widerstand und wehe die ukrainische Flagge in der Stadt, die vor dem Krieg 100 000 Einwohner hatte. Der Gouverneur von Luhansk, Serhij Hajdaj, widersprach Berichten aus Russland, nach denen Sjewjerodonezk vollständig eingenommen sei. Trotzdem ist die Lage bedrohlich. Russische Truppen haben die Stadt fast komplett umstellt. Sie wollen nach dem Fall der 280 Kilometer südlich gelegenen Hafenstadt Mariupol dem russischen Präsidenten Wladimir Putin den nächsten Kriegserfolg bescheren.
Fällt Sjewjerodonezk, ist die Weg frei zum nächsten Kriegsziel, der vollen Einnahme der Region Donezk. Dort drohen schwerste Kämpfe um die symbolträchtigen Bastionen Slowjansk und Kramatorsk. Auf halber Strecke dorthin haben die russischen Truppen schon den wichtigen Verkehrsknotenpunkt Lyman eingenommen, rund 40 Kilometer von Kramatorsk entfernt. Beobachter auch im Westen sehen die russischen Truppen nach fast 100 Tagen Krieg und einem verlustreichen Start inzwischen deutlich schlagkräftiger.
Die jüngsten militärischen Erfolge der Russen im Donbass lassen sich nach Einschätzung des Militärexperten und Politologen Carlo Masala auf zwei Ursachen zurückführen: Erstens fehle es den Ukrainern an schweren Waffen. Zweitens hätten die Russen ihre Strategie erfolgreich geändert. „Im Gegensatz zum bisherigen Kriegsverlauf gehen sie nicht mehr an breiten Abschnitten der Front vor, sondern ziehen ihre Truppen zusammen, um an kleinen Stücken der Front voranzukommen. Dadurch haben sie derzeit eine personelle Überlegenheit“, sagte der Professor für Internationale Politik an der Bundeswehr-Uni in München.
Für die Ukraine stelle sich nun die Frage, ob sie bestimmte Gebiete aufgebe, weil ansonsten die Gefahr bestehe, dass dort Truppen eingekesselt würden und dann vielleicht in Kriegsgefangenschaft gerieten. Ganz entscheidend für den weiteren Kriegsverlauf sei allerdings, welchen Erfolg die von der Ukraine für Juni angekündigte Gegenoffensive haben werde, sagte Masala.
Die ukrainische Führung unter Selenskyj forderte auch am Wochenende wieder eindringlich die Lieferung schwerer Waffen, darunter vor allem Mehrfachraketenwerfer, mit denen die russischen Truppen im Osten zurückgedrängt werden sollen. Selenskyj will den Konflikt auf dem Schlachtfeld gewinnen. Er lehnt russische Forderungen nach einem Verzicht auf die ostukrainischen Gebiete und die von Russland 2014 annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim kategorisch ab.
Zwar zeigte sich Putin am Samstag bei einem Telefonat mit Kanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron offen für einen Dialog mit der Ukraine. Aber die Verhandlungen liegen weiter auf Eis. Der Militärexperte Masala sieht bisher keinen Grund für Putin, sich auf Gespräche einzulassen. „Es läuft für ihn.“ Putin werde erst dann ernsthaft zu verhandeln beginnen, wenn er befürchten müsse, durch eine Fortführung des Krieges mehr zu verlieren als zu gewinnen.
Wie weit Putin und seine Truppen gehen, darüber wird auch in Russland spekuliert. In Moskau und Kiew ist immer wieder zu hören, es gehe Russland letztlich auch um die Hafenstadt Odessa und darum, die Ukraine komplett vom Schwarzen Meer abzutrennen. Sie hätte dann keinen Zugang mehr zu den Weltmeeren. Klarheit gibt es allerdings nicht.