Tokio – Wenn Fumio Kishida dieser Tage vor die Mikrofone tritt, spricht er mit bemerkenswerter Ruhe von einem Thema, das noch vor kurzem für große Aufregung gesorgt hätte. „Mit der Priorität auf Sicherheit werden wir konkrete Schritte zur Wiederinbetriebnahme der Reaktoren machen“, verkündete der japanische Premierminister Ende Mai. Und wenn er seitdem seine Pläne erklärt, wirkt er nicht wie jemand, der sich vor dem Volkszorn fürchtet. Kishida ist überzeugt, das Richtige zu tun. Dabei geht es um die in Japan wohl kontroverseste Frage des vergangenen Jahrzehnts, die schon Regierungen gestürzt und Millionen Demonstranten oder Unterschriften mobilisiert hat: Die Nutzung von Atomkraft.
Seit der Havarie des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi nach einem Erdbeben und dem Tsunami am 11. März 2011, bei der Hunderttausende ihr Zuhause verloren und einige Ortschaften bis heute evakuiert sind, ist stets die Mehrheit in Japan gegen die weitere Nutzung der Atomkraft gewesen. Jetzt aber plant die Regierung den großen Wiedereinstieg – und im Land bleibt es erstaunlich ruhig. 16 der einst 54 Reaktoren im Land befinden sich derzeit im Genehmigungsprozess. Bis zum Jahr 2030 sollen 22 Prozent der nationalen Energieversorgung wieder aus Atomkraftwerken gespeist werden.
Es ist eine beachtliche Wende. Nach dem Gau von Fukushima waren alle Reaktoren abgeschaltet worden, mehrere davon wurden endgültig vom Netz genommen. Erst im Jahr 2015 gingen die ersten beiden Meiler wieder in Betrieb, damals allerdings mit der Bemerkung, sie würden nur die Grundversorgung sichern. Das Gros sollte dagegen aus einem Mix aus fossilen und erneuerbaren Quellen bestehen. Bis jetzt macht die Atomkraft rund fünf Prozent der japanischen Energieversorgung aus – nur ein Sechstel des Anteils vor der Nuklearkatastrophe. Die Atomkraft galt als Auslaufmodell.
Mittlerweile aber hat sich der Wind gedreht. Da Japan über die letzten Jahre rund 90 Prozent seiner Energieversorgung in Form von Öl, Gas und Kohle aus dem Ausland importiert hat, haben sich die Preissprünge seit Beginn des Ukraine-Krieges hier besonders bemerkbar gemacht. Schmerzhaft sind diese auch gerade deshalb, weil die Reallöhne im Land über die letzten Jahre praktisch nicht gestiegen sind. So sind schon relativ kleine Preissprünge deutlich zu spüren.
Die konservative Liberaldemokratische Partei (LDP) des Premierministers befürwortet schon länger wieder die Atomenergie. So brachte sie die Atomkraft schon bei den Bemühungen ins Gespräch, bis 2050 die Transformation in eine CO2-neutrale Volkswirtschaft zu schaffen. Allerdings war dies in diesem Zusammenhang noch kontrovers diskutiert worden. Seit das russische Militär aber die Ukraine angegriffen hat, woraufhin auch Japan einen Stopp diverser Energieimporte aus Russland mitträgt, hat man offenbar andere Probleme. Die Inflation, selbst wenn sie nur gut zwei Prozent beträgt, ist seither das dominierende Thema.
Wohl auch deshalb ergab schon im April eine Umfrage, dass erstmals seit 2011 eine Mehrheit der Bevölkerung für die Nutzung der Atomkraft ist. Man verspricht sich billigere Energie und einen positiven Impuls für die heimische Wirtschaft.
Doch selbst wenn von der Gesellschaft kein großer Widerstand mehr zu vernehmen ist, muss die nach dem Gau von Fukushima institutionell gestärkte Aufsichtsbehörde heutzutage diverse Sicherheitsmängel genau prüfen. Auch die Justiz ist mit dem Thema befasst. Vor einer Woche urteilte ein Gericht auf der Nordinsel Hokkaido, dass das dortige Atomkraftwerk Tomari zunächst nicht wie geplant wieder in Betrieb gehen darf, weil die Unfallsicherheit im Falle eines Tsunami mangelhaft sei.