Münster – Was ihn am meisten überrascht hat? Der Historiker Thomas Großbölting bringt es auf den Punkt: „Wie viele doch über die Jahre von den Missbrauchsfällen etwas gewusst haben.“ Das Wissen zog sich über Bischöfe, Personalverantwortliche und christliche Laien bis hin zu Staatsanwälten. Im Auftrag des Bistums Münster hat Großbölting in einem Fünfer-Team mehr als zwei Jahre an einer Studie zu sexuellem Missbrauch gearbeitet. Dabei ging es nicht nur um die Frage, wie viele Fälle es zwischen 1945 und 2020 gab, sondern auch darum, ob die Kirche Mitschuld trägt.
Und ja, das System Kirche sei als Täter aufgetreten, ist Großbölting überzeugt. Der Priester als Kleriker sei in der katholischen Kirche überhöht und als geweihter Nachfolger Christi quasi als Heiliger dargestellt worden, sagte Großbölting gestern bei der Vorstellung der Studie. Gerade junge Missbrauchsopfer zwischen 10 bis 14 Jahren, oft Messdiener, kamen gegen das System nicht an. Ihnen wurde nicht geglaubt. Viele waren traumatisiert, sprachen erst nach vielen Jahren.
Auch im System der Bistumsleitung sehen die Forscher ein massives Problem. Bischöfe sollten Richter, Vorgesetzter und Seelsorger gleichzeitig sein. Das habe fatale Folgen gehabt. Auch die katholische Sexualmoral habe Verbrechen begünstigt.
Die Zahl der beschuldigten Priester und Missbrauchsopfer ist deutlich höher als bekannt. Demnach gab es im Bistum Münster in den 75 Jahren annähernd 200 Kleriker, die sich schuldig machten, und mindestens 610 minderjährige Opfer. Die Dunkelziffer ist erheblich höher. Die Forscher gehen von 5000 bis 6000 Opfern aus.
Großbölting widersprach zudem der Schilderung des 2008 verstorbenen Bischofs Reinhard Lettmann, der von Einzelfällen gesprochen hatte. Missbrauchsfälle habe es flächendeckend in allen Dekanaten des Bistums gegeben. Viele hätten davon gewusst, sagte Großbölting.
Nachweisen konnten die Forscher jahrzehntelanges Versagen in der Bistumsleitung und Strafvereitelung in verschiedenen Fällen. Dabei standen die drei Bischöfe Joseph Höffner (Amtszeit: 1962-1969), Heinrich Tenhumberg (1969-1979) und Reinhard Lettmann (1980-2008) im Mittelpunkt. Immer wieder wurden straffällig gewordene Priester nur versetzt – und wieder zu Tätern. Bei anderen setzte sich die Bistumsleitung bei der Staatsanwaltschaft ein. Ermittlungsverfahren wurden eingestellt, Gerichtsverfahren zur Farce. Dem jetzigen Bischof Genn werfen die Forscher vor, als Vorgesetzter gegenüber reuigen Tätern nicht die nötige Strenge gezeigt zu haben.
Sexueller Missbrauch von Kindern sei ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, so der Historiker. Es gebe ihn in Sportvereinen, in Schulen und am meisten wohl in und im Umfeld von Familien. Doch Missbrauch im Katholischen sei durch sehr bestimmte Abhängigkeits- und Machtverhältnisse geprägt. „Die Täter nutzen ihre Stellung als Geistliche, um die Gottesliebe der Kinder auf sich zu lenken, diese zu funktionalisieren und zur Befriedigung und Ausübung von Macht zu benutzen.“ Stärker könne man die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe nicht pervertieren. dpa/cm