München – Noch sind es nicht allzu viele Informationen, die aus der Erdbebenregion im Osten Afghanistans nach außen dringen. Aber das wenige, was man aus den Provinzen Khost und Paktika hört, lässt das Ausmaß des Leids und der Zerstörung mehr als erahnen. Helfer, die mit den Händen nach Überlebenden graben, weil es keinerlei Ausrüstung gibt. Massengräber für die Menschen, die schon geborgen sind, und die vielen, die noch unter den Trümmern vermutet werden. Einen solchen Horror habe er noch nie erlebt, sagt ein Polizeisprecher – und das in einem Land, das in den vergangenen Jahrzehnten so vielen Schrecken ausgesetzt war.
Hilfsorganisationen haben dem Land umgehend Unterstützung zugesagt. Aus Deutschland sicherten Malteser und Caritas je 100 000 Euro als Soforthilfe zu. „Der Bedarf an schneller Unterbringung ist riesig“, erklärte Caritas-Leiter Oliver Müller. Außenministerin Annalena Baerbock berichtete gestern, dass die Johanniter auf dem Weg in die Krisenregion seien. Ungeachtet aller Schwierigkeiten, die seit der Machtübernahme der Taliban vor zehn Monaten das Verhältnis Afghanistans zum Westen massiv belasten, zähle in solchen Momenten „allein das Gebot der Humanität gegenüber den Menschen in Not“.
Das Beben erschüttert ein Land, das bereits schwer unter den politischen Umwälzungen leidet, unter der Misswirtschaft der Taliban, politischer Verfolgung und der Unterdrückung von Frauen und Mädchen. Die Sorge, dass die Islamisten mit dem Krisenmanagement in der Grenzregion überfordert sein könnten, ist groß. Thomas Ruttig, Mitbegründer des Thinktanks Afghanistan Analysts Network, kann diese Befürchtung bislang nicht bestätigen.
Ruttig, der mehr als zehn Jahre in Afghanistan lebte, hat von seinen Kontakten erfahren, „dass die Taliban-Behörden Initiative zeigen“. Das Verteidigungsministerium hat demnach aus seinen sehr spärlichen Beständen Hubschrauber in die Region geschickt, und der Innenminister, der selber von dort stammt, ist vor Ort. Das größte Hindernis seien momentan nicht inkompetente Funktionäre, sondern die „Isolation der Region“ tief im Bergland sowie die Naturgewalten.
In den vergangenen Tagen waren 18 Provinzen von heftigen Fluten heimgesucht worden. Ein Klinikchef in Paktikas Hauptstadt Sharan verglich die Lage mit einem „Tsunami“. Das Gesundheitssystem sei total überfordert. Ruttig glaubt allerdings, dass es unter den aktuellen Umständen „auch für die vorangegangene Regierung schwer“ gewesen wäre, schnelle und wirksame Hilfe zu leisten.
Das Erdbeben verlieh Baerbocks gestrigem Auftritt zusätzliche Aktualität. Vorgesehen war er schon länger, Anlass war eine Zwischenbilanz des „Aktionsplans Afghanistan“, den die Ministerin im Dezember vorgestellt hatte. Seit Jahresbeginn habe sich die Zahl der Ausreisen von Menschen, denen Deutschland die Aufnahme zugesagt habe, auf mehr als 12 000 verdoppelt. Insgesamt seien seit der Machtübernahme der Taliban über 21 000 eingereist. Weitere sollen folgen, etwa auf einer legalen Ausreiseroute über Pakistan, die Baerbock kürzlich vereinbarte.
Mit den Umständen des überstürzten Bundeswehr-Abzugs aus Afghanistan soll sich ein Untersuchungsausschuss befassen. Gestern debattierte der Bundestag erstmals über seine Einsetzung. Aufnehmen soll der Ausschuss die Arbeit am 7. Juli.
„Wie ein dunkler Schleier“ habe sich die Herrschaft der Taliban über die Leben der Afghanen gelegt, sagt Baerbock. Weltweit wird den Radikalislamisten bislang die Anerkennung als Regierung versagt. Dabei dürfte es bleiben, dennoch gibt es erste Überlegungen, ob die Katastrophe einen Einfluss auf das Verhältnis zum Westen haben kann. Niels Annen (SPD), Staatssekretär im Entwicklungsministerium, hält ein Umsteuern der Taliban nicht für ausgeschlossen. Manchmal, sagte er im Deutschlandfunk, sei „eine solche unglaubliche Katastrophe eine Möglichkeit, so etwas wie einen Neustart zu beginnen“.