Kiew/Moskau – Im Osten der Ukraine sind die russischen Truppen nach mehr als vier Monaten Krieg weiter auf dem Vormarsch. Verteidigungsminister Sergej Schoigu meldete Kremlchef Wladimir Putin, dass nun auch die einstige Großstadt Lyssytschansk eingenommen worden sei.
Die Ukraine bestritt zunächst, dass Lyssytschansk gefallen sei, erklärte aber gestern Abend den Rückzug der ukrainischen Armee. Die russischen Besatzungstruppen hätten eine mehrfache Überlegenheit, hieß es vom Generalstab in Kiew. Eine weitere Verteidigung hätte daher „fatale Folgen“.
Eine tatsächliche Einnahme wäre für Putin ein wichtiger Erfolg. Lyssytschansk war in den vergangenen Tagen die letzte größere Bastion der Ukrainer im Gebiet Luhansk. Dessen Eroberung gehört zu den von Russland benannten vorrangigen Kriegszielen. In der letzten Juni-Woche hatte das ukrainische Militär die Großstadt Sjewjerodonezk aufgeben müssen, die von Lyssytschank nur durch einen Fluss getrennt ist. Vor dem Krieg lebten in dem Ballungsraum etwa 380 000 Menschen.
Vom russischen Verteidigungsministers hieß es nun: „Durch erfolgreiche Kampfhandlungen der russischen Streitkräfte zusammen mit den Einheiten der Luhansker Volksrepublik wurde die völlige Kontrolle über die Stadt Lyssytschansk und eine Reihe der nächstgelegenen Ortschaften hergestellt.“
Ein Sprecher des ukrainischen Verteidigungsministeriums erklärte in der BBC: „Für Ukrainer hat der Wert menschlichen Lebens oberste Priorität. Deshalb könnten wir uns manchmal aus gewissen Gebieten zurückziehen, um sie in der Zukunft zurückzuerobern.“ Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnete die Lage um Lyssytschansk als schwierig.
Bei Raketenangriffen auf die Stadt Slowjansk im Osten des Landes soll Russland nach ukrainischen Angaben verbotene Streumunition eingesetzt haben. Bürgermeister Wadym Ljach sprach von Toten und Verletzten sowie den „schwersten Angriffen in jüngster Zeit“ , nannte aber keine genaue Opferzahl. Als Streumunition werden Raketen und Bomben bezeichnet, die in der Luft über dem Ziel bersten und viele kleine Sprengkörper freisetzen. Ihr Einsatz ist völkerrechtlich geächtet. Die Ukraine beschuldigte Russland auch, über der inzwischen geräumten Schlangeninsel im Schwarzen Meer Phosphorbomben abgeworfen zu haben.
Auch in anderen Teilen der Ukraine gingen die schweren Kämpfe am Wochenende weiter. Die von russischen Truppen besetzte Großstadt Melitopol im Süden wurde in der Nacht zum Sonntag von Dutzenden Explosionen erschüttert. Mehr als 30 Geschosse seien auf einen der vier russischen Militärstützpunkte in der Stadt abgefeuert worden.