„Dann ziehen wir halt die Notbremse“

von Redaktion

Stammstrecken-Zoff in Bayerns Regierung – Söder plant Gipfeltreffen und hält an Projekt fest

München – Es sollte eine unaufgeregte, schnelle Arbeitssitzung des Kabinetts werden. Alle nur per Video zugeschaltet, der Ministerpräsident aus Nürnberg, der Vize coronakrank aus Niederbayern – aber dann wurde es binnen Minuten plötzlich hitzig. Ein Krach über das Milliardenprojekt Stammstrecke hat Bayerns Koalition kräftig durchgerüttelt, so schildern es mehrere Teilnehmer der Runde am Dienstagmorgen.

Im Zentrum: Hubert Aiwanger. Der Wirtschaftsminister soll höchst sauer auf den Zahlensalat um die zweite Stammstrecke reagiert haben, auf die Schätzungen, die Röhre verschlinge statt drei nun über sieben Milliarden Euro (oder mehr) und werde erst 2037 (oder später) fertig. Der Freie-Wähler-Chef wurde mit dem Satz vernommen, dann müsse man halt „die Notbremse ziehen“. Sein Parteifreund und Umweltminister Thorsten Glauber soll sich ähnlich kritisch eingelassen haben, am Sinn des Projekts für nur vier Millionen Oberbayern gezweifelt haben. Der Satz „Dann schütten wir es halt wieder zu“ wird Aiwanger zugeschrieben.

Es habe „große Wallungen“ gegeben, schildert ein Minister die folgenden Minuten im Kabinett. CSU-Kollegen aus München und Oberbayern widersprachen energisch, auch Ministerpräsident Markus Söder griff ungewöhnlich deutlich ein. Er warf Aiwanger vor, die Regierung massiv zu belasten. „Das ist eine Hypothek für die Koalition“, so wird er zitiert, man dürfe das Projekt nicht fallen lassen.

Technisch möglich wäre ein Baustopp. Gebaut wurde bisher im Westen und am Marienhof, im Osten gibt es noch nicht mal Baurecht. Finanziell wäre das für den Freistaat aber ein Schuss ins Knie, geht aus internen Rechnungen des Verkehrsministeriums in München hervor. Grob überschlagen wurde bisher eine Milliarde verbaut, das Zuschütten und die Regressforderungen der Unternehmen werden auf weitere zwei Milliarden geschätzt.

Diesen Anteil müsste Bayern wohl weitgehend alleine stemmen, weil der Bund sich mit dem vereinbarten Satz von 60 Prozent nur an „förderfähigen Kosten“ beteiligt. Heute buddeln, morgen zuschütten – als „förderfähig“ ist das wohl nicht zu sehen. Bayern hätte dann drei Milliarden Euro Steuergeld für nichts vergraben – die ungefähr gleiche Summe, die der Freistaat bei Gesamtkosten von gut sieben Milliarden Euro aufbringen müsste.

Intern wird nun – auch mit der Stadt – über andere Maßnahmen gesprochen, etwa bei der ergänzenden U9 zu sparen, eine zusätzliche Nord-Süd-Linie mit direkter Verbindung zwischen Hauptbahnhof und Münchner Freiheit. Festlegen will sich darauf aber noch niemand. Aiwanger fordert gegenüber unserer Zeitung „unverzüglich einen sauberen Zeit- und Kostenplan“ von der Bahn, zudem vermisst er ein Konzept, „mit welchen Maßnahmen man gegebenenfalls vor 2037 Verbesserungen der Verkehrssituation auch im Umland erreichen kann“.

Söder stellt jedenfalls klar, dass er am Projekt festhält und die Bahn in der Pflicht sieht, eine seriöse Kalkulation vorzulegen. Bisher entzogen sich die Manager des Unternehmens öffentlichen Auftritten zu diesem Thema, sagten auch dem Münchner Stadtrat ab. Es gibt aber auch Unmut, dass das Verkehrsministerium vor der Übernahme durch Christian Bernreiter (CSU) nicht Alarm schlug.

Söder plant nun, so heißt es aus der Staatskanzlei, die Bahn-Leute nachdrücklich zu einem Stammstrecken-Gipfel zu bitten. Noch im Juli soll es dieses Treffen von Söder, seinen zuständigen Ministern und den Landräten und Oberbürgermeistern aus München und dem S-Bahn-Umland geben. Dort müssten „alle Fakten auf den Tisch“. Unter den Landräten sind übrigens auch einige Freie Wähler, die die Röhre stark befürworten.

C. DEUTSCHLÄNDER/M.SCHIER

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