München – Es könnte Taktik sein – oder, so unwahrscheinlich das klingt, ehrlicher Optimismus. Man sei zwei Schritte von einem Abkommen mit Russland entfernt, sagte der ukrainischer Außenminister Dmytro Kuleba am Mittwoch der spanischen Zeitung „El País“. Jetzt hänge es von Moskau ab. „Wenn sie es wirklich wollen, werden die Getreideexporte bald beginnen.“
Die Frage, ob es so kommt oder nicht, ist alles andere als lapidar. Die Ukraine gehört wie Russland zu den weltweit größten Exporteuren von Weizen und anderem Getreide, viele Länder in Asien und Afrika hängen von ihren Lieferungen ab. Doch während Kiew zu Normalzeiten für rund neun Prozent der weltweiten Exporte verantwortlich ist, bleibt es nun auf dem Großteil seiner Erzeugnisse sitzen. Laut UN liegen bis zu 25 Millionen Tonnen Getreide in den Speichern herum.
Verantwortlich dafür ist allem Anschein nach Russland, das seit Kriegsbeginn die Schwarzmeerhäfen der Ukraine blockiert – und damit die Getreideausfuhr. Das Problem verschärft sich, denn weil die Silos berstend voll sind, ist kein Platz für die neue Ernte. Kiew fehlen die Einnahmen, die Weltmarktpreise klettern, gerade arme Länder steuern auf eine Hungerkatastrophe zu. Aus Berlin kam deshalb der Vorwurf, Moskau nutze Hunger als Waffe.
Das Problem ist also gewaltig. Immerhin: Hoffnung machen die vertraulichen Gespräche, die gestern unter türkischer Vermittlung in Istanbul stattfanden. Militärexperten aus Russland und der Ukraine sprachen mit Vertretern der Türkei und der Vereinten Nationen über Lösungen, etwa einen Seekorridor. Es sei ein „entscheidender Schritt“ in Richtung einer Lösung erreicht, sagte UN-Generalsekretär Antonio Guterres am Abend vage. Auch die Türkei bestätigte Fortschritte, nächste Woche geht es in eine neue Verhandlungsrunde.
Skepsis ist angebracht. Einem sicheren Korridor stehen nämlich nicht nur unzählige Seeminen im Weg. Auch die Bedingungen für so eine Lösung waren bisher unvereinbar. So bestanden die Russen nicht nur auf Sanktionserleichterungen, sondern auch darauf, Frachtschiffe inspizieren zu dürfen, um Waffenschmuggel in die Ukraine zu verhindern. Kiew wiederum fürchtet Angriffe vor allem auf den wichtigen Hafen von Odessa und fordert daher Sicherheitsgarantien. Außenminister Kuleba sagte zudem vor einigen Tagen, ausländische Begleitschiffe müssten die Frachter bewachten.
Das Misstrauen ist groß, vielleicht zu groß. Hinzu kommt, dass die Ukraine Russland beschuldigt, Getreide aus besetzten Gebieten zu stehlen – Präsident Selenskyj sprach kürzlich von einer halben Million Tonnen. Wie zum Beleg forderte Kiew die Türkei vor einigen Tagen auf, den russischen Frachter Zhibek Zholy festzusetzen, der im türkischen Hafen Karasu ankerte. Ankara tat das auch und versprach eine Untersuchung, ließ den Frachter aber wieder frei – zur großen Enttäuschung von Kiew.
Was genau in Istanbul besprochen wurde, ist unklar. Dem Vernehmen nach waren Geleitschiffe genauso im Gespräch wie die Inspizierung einzelner Schiffe durch Türkei oder UN. Die Frage ist, ob Russland Interesse an einem Deal hat, der der Ukraine nutzt. Kuleba sieht immerhin einen Grund: „Sie wollen den Ländern Afrikas und Asiens zeigen, dass sie sie vor der Lebensmittel-Knappheit bewahren wollen.“ Da könnte was dran sein. Wladimir Putin ringt nämlich seit Langem um Einfluss auf beiden Kontinenten. Zuletzt redeten ihm Vertreter der Afrikanischen Union ins Gewissen.
Noch gibt es keine Lösung, darum versucht die Ukraine, zumindest einen Teil ihres Getreides auf anderen Wegen in die EU zu bringen: per Lastwagen über Land oder auch über den Hafen in der rumänischen Stadt Konstanza. Weil die Infrastruktur fehlt, geht das aber nur mit kleinen Mengen. Außerdem fressen die hohen Transport-Kosten die Erträge quasi auf.
So akut die Getreidefrage gerade ist – sie wird wohl über den Moment hinaus ein Problem bleiben. Vielen Bauern droht wegen der Einnahmeausfälle der Bankrott. Außerdem können wegen des Krieges derzeit bis zu 30 Prozent der Ackerflächen nicht genutzt werden, weil sie vermint oder besetzt sind. Und dennoch: Eine Einigung zwischen der Ukraine und Russland würde für den Moment Entspannung bedeuten. Wenn Istanbul keine Lösung bringt, dann vielleicht Teheran. Dort treffen sich Wladimir Putin und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nächste Woche. Es könnte auch ums Getreide gehen.