München – Genau ein Jahr ist es her, dass Enrica Grunewalds Herzensprojekt in Wasser- und Schlammmassen versankt. Die 32-Jährige hatte zuvor ein altes Anwesen im 600-Einwohner-Ort Ludendorf in Nordrhein-Westfalen gekauft und renoviert. Anfang 2021 bezog sie mit ihrem Verlobten das neue Heim. Doch nur für ein halbes Jahr. Der 14. Juli änderte alles. Das Erdgeschoss stand unter Wasser und das ganze Gelände drumherum war „keine Wiese mehr, sondern ein Urwald“, beschreibt Grunewald die Flutschäden. Jetzt, nachdem ein Jahr vergangen ist, fühlt sich die 32-Jährige „ausgelaugt“, wie sie sagt. Noch immer leben die beiden auf einer Baustelle.
Die 183 Toten, die Bilder der Schlamm- und Wassermassen und die Not in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sorgten bundesweit für Entsetzen. Allein im rheinland-pfälzischen Ahrtal wurden 9000 Gebäude beschädigt oder gar zerstört. Die Hilfsbereitschaft war enorm. Deutschland spendete. Das Bündnis „Aktion Deutschland Hilft“ erzielte 282 Millionen Euro Spenden. Auch viele Leser unserer Zeitung spendeten. Doch nach einem Jahr sind immer noch – mit 127 Millionen Euro – nicht einmal die Hälfte der Spendengelder ausgezahlt worden. Das dringend benötigte Geld liegt also auf Halde.
Das Bündnis, in dem 15 Organisationen Hochwasserhilfe leisten, erklärte auf Anfrage unserer Zeitung, dass gerade am Anfang zügig Soforthilfen gezahlt worden seien – insgesamt 35 Millionen Euro. „Nun beginnt mit der längeren Phase des Wiederaufbaus der Marathon.“ Ein Marathon mit vielen Hürden.
Eigentlich hatte der damalige Bundesfinanzminister, heutige Kanzler Olaf Scholz (SPD) direkt nach der Flut gefordert: Es müsse „den Flut-Opfern schnell, großzügig und unbürokratisch helfen.“ Doch das deutsche Spendenrecht erlaubt keine unbürokratischen Prozesse. Bevor private Haushalte nämlich Spendengelder erhalten können, müssen erst Versicherungsleistungen und staatliche Hilfen in Anspruch genommen werden. Das sogenannte Prinzip der Nachrangigkeit soll verhindern, dass Spendengelder an den Staat oder Versicherungen fließen. Ein logisches Prinzip – in der Praxis aber zeitintensiv.
Die Investitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz (ISB) ist für die staatlichen Zahlungen an flutbetroffene Haushalte zuständig. Unserer Zeitung teilte die ISB mit: Eigentlich dauert ein Antrag zu Gebäudeschäden sechs Wochen. Jedoch: „In vielen Fällen sind die Anträge unvollständig und Unterlagen müssen nachgefordert werden“, so eine ISB-Sprecherin. Bis alles korrekt vorliegt, steht der Prozess still. Der Mangel der dafür notwendigen Gutachter erschwert das Prozedere. Vom Malteser Hilfsdienst heißt es dazu auf Anfrage: „Dass sich alle – Betroffene, Helfende und Spendende – eine schnellere Bearbeitung und Verarbeitung der Schäden wünschen, ist selbstverständlich.“ Wegen des Aufwands bieten Hilfsorganisationen sogar Beratungen bei der Antragsstellung an.
Die Folge: Betroffene müssen teils selbst Kredite aufnehmen oder auf ihre eigenen Rücklagen zurückgreifen, berichtet Nadia Ayche, von der Organisation „Einfach machen Patenschaften“. Die Karlsruherin bietet aus ihrem Wohnzimmer heraus schnelle Hilfe an. Die Unterstützung reicht von der Koordination über Hilfsgüter bis hin zu direkten Geldspenden. „Es kann ja nicht sein, dass die Menschen ihr Erspartes in Anspruch nehmen müssen“, sagt Ayche unserer Zeitung.
Auch Grunewald muss vieles selbst in die Hand nehmen. Denn der Handwerkermangel ist enorm. Für die langen Bearbeitungszeiten von Anträgen hat sie Verständnis, wie sie sagt. Gleichzeitig hofft die Bauingenieurin, dass sie „die nötigte Zeit bekommt“ – und die Hilfen nicht irgendwann auslaufen. Laut Malteser läuft die Planung der 2021 gespendeten Mittel noch bis mindestens 2025. Dabei bleibt die Zweckbindung der Spende erhalten. Eine Flut, die alle Betroffene noch Jahre begleitet.