„Es hat mich aus der Umlaufbahn geworfen“

von Redaktion

Es war ein bemerkenswerter Schritt: Im Juni nahm sich Michael Roth, 51, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, eine vierwöchige Auszeit wegen psychischer Probleme. Zuvor hatte der hessische SPD-Politiker als Kritiker der zögerlichen Waffenlieferungen für die Ukraine fast täglich Schlagzeilen geschrieben. Im knallharten Politgeschäft ist sein Schritt noch immer äußerst ungewöhnlich. Ein Gespräch.

Herr Roth, als Sie sich krank und erschöpft fühlten, haben Sie die Frage „Wie geht es Ihnen?“ als herausfordernd empfunden. Jetzt trotzdem die Frage: Wie geht es Ihnen?

Danke, mir geht es gut. Der Monat Auszeit – ich sage ausdrücklich: Auszeit, nicht Urlaub – hat mir persönlich sehr viel gebracht und gutgetan. Ich bin unendlich dankbar, dass ich das machen durfte. Klar: Nicht jeder Selbstständige oder Arbeitnehmer hat diese Möglichkeit. Zu mir kann ich nur sagen: Der Jahreswechsel, bis ins Frühjahr hinein, das waren die schwierigsten und schlimmsten Monate. Durch meine Behandlung hat sich vieles zum Besseren gewandelt. Heute bin ich wieder leistungsfähig, motiviert und angstfrei.

Wie hat sich Ihre Erkrankung gezeigt?

Ich habe unter einer mentalen Erschöpfung und Angstzuständen gelitten. Wobei meine Therapeutin und ich der Erkrankung nie einen Namen gegeben haben. Sie hat mich aus der Umlaufbahn geworfen. Das war schlimm. Spätestens nach einer furchtbaren Weihnachtspause war mir klar: So kann es nicht weitergehen. Ich war nicht mehr in der Lage, einfachste Entscheidungen zu treffen, so etwas wie: Kaufe ich Rotkohl oder Weißkohl? Koche ich, oder lasse ich es bleiben?

Wie lange hat die Erkenntnis reifen müssen: Ich brauche Hilfe?

Viel zu lange. Es war ja nicht zum ersten Mal, dass ich ein mentales Tief durchlief. Aber wie so oft habe ich versucht, die Probleme ganz aus eigener Kraft wieder in den Griff zu bekommen. Ich hatte mir erhofft, dass die Ruhe der Weihnachtspause dazu ausreicht. Aber es wurde immer düsterer und dunkler. Am Neujahrstag sagte ich zu meinem Mann und Freunden: Ich brauche Hilfe! Wer meint, diese Erkrankung alleine mit seinem Umfeld oder seiner Familie in den Griff zu bekommen, der mutet sich und seiner Umgebung viel zu viel zu. Ich kann nur allen raten, sich in solch einer Situation professionelle Hilfe zu suchen.

Ende März saßen Sie bei „Markus Lanz“ und waren angesichts von Bildern aus der Ukraine überraschend emotional und den Tränen nah. War das der Ausdruck Ihrer damaligen labilen Verfassung?

Ich bin ein sehr emotionaler Mensch. Emotionalität ist auch nichts Anstößiges. Politik ohne Emotionen und Empathie ist ein hohles Nichts. Mich haben die Bilder sehr mitgenommen und erschüttert. In dem Moment, als ich diese Bilder der ermordeten Kinder sah, spürte ich ganz besonders mein Limit. Ich dachte, jetzt schmeißt du die ganze Sendung. Da merkte ich, wie dünn mein Fell doch geworden ist.

Früher hätte man gesagt, Sie gehen mit Ihrer Erkrankung offen um. Aber ist dieses Enttabuisieren noch nötig? Auch andere Spitzenpolitiker wie Peter Tauber oder Sahra Wagenknecht sprachen darüber.

Offenkundig sind wir noch nicht viel weiter. Ich muss klarstellen: Ich bin nicht missionarisch tätig. Aber ich wollte ehrlich sein und den Menschen nicht länger vorgaukeln, dass alles in Ordnung ist. Seitdem fühle ich mich deutlich besser. Es war erst an zweiter Stelle meine Absicht, anderen Menschen Mut zu machen, sich ihrer eigenen Erkrankung zu stellen. Aber es ist nötig: Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, da hat Peter Struck zunächst nicht offen über seinen Schlaganfall gesprochen, sondern über eine Kreislaufschwäche. Heutzutage kann eine Politikerin wie Manuela Schwesig ganz offen mit ihrer schweren Krebserkrankung umgehen. Aber bei psychischen Erkrankungen ist es nach wie vor so, dass man schlimme Vorurteile ausräumen muss. Auch in meinem Umfeld hat es niemanden gegeben, der sonderlich erfreut darüber war, dass ich das öffentlich mache.

Aus welchen Gründen?

Es gab nicht wenige, die gesagt haben, meine weitere Karriere sei gefährdet. Wer soll denn so jemandem wie mir, der mal an seine Grenzen geraten ist, noch eine neue anspruchsvolle Aufgabe anvertrauen? Man kennt ja den Spruch: Wem es in der Küche zu heiß ist, der sollte sie möglichst verlassen. Aber um mal im Bild zu bleiben: Wer sich mal so richtig verbrannt hat, der wird danach viel bewusster, ja vielleicht sogar besser kochen, eben weil er seine Grenzen kennt.

Sie haben sich selbst einen Plan gemacht, wie Sie Ihr Leben ändern müssen.

Beim Mittagessen, bei Terminen und Gesprächen ist das Handy jetzt komplett tabu. Wenn ich meine Ruhepause habe, und seien es nur 20 Minuten, dann bleibt das Handy in der Tasche. Auch dass ich mir morgens und abends sage, wofür ich dankbar sein kann, gehört dazu. Und ich frage mich jetzt regelmäßig: Was tut mir gut? Brauche ich das wirklich?

Als Außenpolitiker fiel Ihre Auszeit ausgerechnet in die Zeit des Ukraine-Krieges.

Als Mensch, der nach dem Fall der Mauer auf „Peace forever“, ein Leben ohne Krieg, hoffte und das auch für eine reale Vision hielt, bin ich natürlich wie viele ganz schön auf die Schnauze gefallen. Ich weiß, das ist nichts gegen das Schicksal der Menschen in der Ukraine: Dieser Krieg hat mich verändert. Ich trete für weitreichende militärische Aufrüstung und Waffenlieferungen ein. Die Konflikte darüber innerhalb der SPD sind für mich nicht einfach. Ich möchte jedoch klarstellen: Mich haben nicht der Krieg oder meine eigene Partei krank gemacht.

Interview: Martin Benninghoff

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