München – Kurz nachdem die Wahllokale geschlossen hatten, gab Kais Saied ein Versprechen ab. Dies sei der Beginn einer „neuen Republik“, sagte der 64-Jährige in der Nacht zu Dienstag. Die Souveränität liege nun bei den Menschen im Land. Und: Mit der neuen Verfassung im Rücken wolle er Reformen anstoßen und „alle Forderungen des tunesischen Volkes umsetzen“.
Es ist die bekömmliche Umschreibung dessen, was Kritiker als Rückfall in die Autokratie sehen. Denn die neue Verfassung sichert dem tunesischen Präsidenten weitgehende, manche sagen gar diktatorische Vollmachten. Künftig kann er nach Belieben das Parlament auflösen oder die Regierung entlassen. Er darf Richter ernennen und im Zweifel die eigene Amtszeit verlängern. Der Politologe Hamadi Redissi sagte unlängst, Tunesien bewege sich auf eine „Diktatur im lateinischen Sinne des Wortes zu, in der der Präsident alles diktiert“.
Dabei galt das nordafrikanische Land lange als Beispiel dafür, dass Demokratie auch in der arabischen Welt funktionieren kann. Nach dem Arabischen Frühling gab sich Tunesien eine moderne Verfassung, die Gewaltenteilung garantierte und Frauenrechte stärkte. Während aber demokratische Institutionen aufgebaut wurden, verbesserte sich im Leben der Menschen wenig, im Gegenteil: Das Misstrauen in die in Machtkämpfe verstrickte politische Klasse wuchs, Korruption blühte, eine wirtschaftliche Krise vertiefte den Frust. Said spielt all das in die Karten.
Der Präsident, eigentlich Verfassungsjurist und 2019 als Anti-Establishment-Kandidat ins Amt gewählt, setzt nun fort, was er vor genau einem Jahr begann. Damals löste er eigenmächtig das Parlament auf und entließ den Regierungschef. Seither regiert er per Dekret. Auch die neue Verfassung, der die Tunesier am Montag zustimmten, soll Saied im Alleingang verfasst haben. Der Jurist Sadok Belaid, Chef der ursprünglich eingesetzten Verfassungskommission, warnte, der Entwurf des Präsidenten sei gefährlich und führe in die Diktatur. Auch die (allerdings gespaltene) Opposition stemmte sich dagegen – ohne Erfolg.
„Wir sehen das vorläufige Ende einer langen Entwicklung“, sagt Franz Maget. Der frühere Chef der SPD-Landtagsfraktion arbeitete als Sozialreferent in der deutschen Botschaft in Tunis, später als Maghreb-Berater des damaligen Entwicklungsministers Gerd Müller (CSU). Tunesien ist er seit Jahren tief verbunden. „Viele Menschen sind zutiefst enttäuscht von der Demokratie. Sie sehen, dass im Land nichts vorangeht.“ Präsident Saied verstehe es wie kein anderer, diese Stimmungslage aufzugreifen.
Zur Wahrheit gehört, dass auch er es bislang nicht geschafft hat, Tunesien ökonomisch auf die Beine zu helfen. Vielen Menschen geht es schlechter als unter Diktator Zine el-Abidine Ben Ali, den die Tunesier 2011 durch ihre Proteste aus dem Amt fegten. Manche Analysten sehen das Land vor dem Bankrott. Ohne Milliardenhilfen des Internationalen Währungsfonds wird es nicht gehen.
Dennoch halten viele Tunesier Saieds Weg für den richtigen. Auch Maget spricht vom „autoritären Charakter“ der neuen Verfassung und einem „gewaltigen Rückschritt“. Zugleich warnt er aber vor der „europäischen Brille“. „Wenn man unsere Maßstäbe anlegt, ist das natürlich eine sehr problematische Entwicklung“, sagt er. „Aber wir müssen eines zur Kenntnis nehmen: Die politische Elite im Land hat sich über Jahre derart in Misskredit gebracht, dass die Menschen Saieds autoritären Coup mittragen.“
Zumindest die, die sich noch nicht ganz aus dem politischen Raum verabschiedet haben. Die Beteiligung beim Referendum war mit unter 30 Prozent extrem gering, viele boykottierten das Votum bewusst. Dabei dürfte auch die Sorge vor gesellschaftspolitischen Rückschritten eine Rolle gespielt haben. Saied gilt als Mann mit islamisch-konservativen Ansichten, etwa zu Homosexualität oder Frauenrechten. „Ich will das nicht herunterspielen“, sagt Maget. „Aber die tunesische Zivilgesellschaft ist hellwach. Ich bin sicher: Die Frauen werden sich ihre Rechte nicht beschneiden lassen.“